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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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leisten. Und Josef Vetter leistete sich auch weiterhin Freundinnen. Er war das, was man damals einen Lebemann nannte – ohne Rücksicht auf seine Ehefrau und seine Familie. Entsprechend schlecht waren seine Kinder auf ihn zu sprechen.
    Seit Andrea Vetter vor einigen Jahren angefangen hat, bei den Eltern nachzufragen, fügt sich ein Mosaiksteinchen zum nächsten, doch ein komplettes Bild ergibt das noch lange nicht. Manchmal überlegt sie, ob das nicht auch sein Gutes habe. Ist es nicht besser, zu dosieren, anstatt alles auf einmal zu erfahren? Wollen Kinder vom Trauma ihrer Eltern wirklich Details wissen? Natürlich ist ihr bewusst, dass es Bücher gibt, die ihr einen anderen Zugang zu ihrer Familiegeschichte vermitteln könnten: Ralph Giordanos Roman »Die Bertinis« zum Beispiel, der vom Schicksal einer den Vetters vergleichbaren Familie in Hamburg erzählt. In den Tagebüchern von Viktor Klemperer wäre nachzulesen, welche Erniedrigungen die Nazis sich für Paare ausdachten, die zusammenblieben, obwohl der eine Ehepartner Jude war. Andrea Vetter könnte also auch auf diese Weise Familienforschung betreiben oder sie könnte in der umfangreichen Vertriebenenliteratur recherchieren. Eines Tages, sagt sie, werde die Zeit vielleicht reif sein für eine solche Lektüre.

[103] Sechstes Kapitel
    DAS BÖSE

[105] Familienforschung im Fernsehen
    Der Schauspieler Armin Rohde wollte einfach nur mehr über seinen Großvater erfahren. Das hatte für ihn böse Folgen, was wieder einmal deutlich machte: Es ist in der Tat keine gute Idee, sich als Deutscher blauäugig auf Familienforschung einzulassen. Die ARD hatte Rohde eingeladen, zu einer Fernsehdokumentation – Titel: »Das Geheimnis meiner Familie« – Persönliches beizutragen. Es handelte sich um ein Format, das bereits in England erfolgreich und ohne Nebenwirkungen ausgestrahlt worden war.
    Armin Rohdes Mutter hatte so gut wie nie über ihren Vater gesprochen, aber eindeutig vermittelt, er sei brutal gewesen und habe die ganze Familie tyrannisiert. Im Düsseldorfer Stadtarchiv stieß Sohn Armin auf einen Stapel alter Ordner. Auf dem Aktendeckel stand: »Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit« – daneben der Name von Rohdes Großvater. Er war Polizist im Warschauer Ghetto gewesen. In der Anklageschrift wurde ihm vorgeworfen, an der Erschießung von 110 Juden beteiligt gewesen zu sein. Armin Rohde sagte später in einem Interview: »Bei seinen Kameraden galt er als schießwütig«. Laut Zeugenaussagen hatte sein Großvater akribisch eine Strichliste über seine Morde geführt. Trotz der schweren Anklage wurde er in den 1950er Jahren freigesprochen.
    Verletzte Integrität
    Man sollte denken, dass der Augenblick, in dem ein Enkel entdeckt, dass sein Großvater ein Massenmörder war, dem Enkel ganz allein gehört. Die Verantwortlichen im öffentlich-rechtlichen [106] Fernsehen sahen das nicht so. Obwohl es gar nicht anders sein konnte, als dass Armin Rohde durch die Wahrheit über seinen Großvater traumatisiert worden war, hatte man ihn danach nicht etwa in Sicherheit gebracht – wie es üblicherweise mit Schwerverletzten geschieht –, sondern er wurde im April 2008, als die Dokumentation gesendet wurde, vor einem Millionenpublikum entblößt. Die Kamera hielt auf seinem Gesicht jenen Moment fest, als für ihn – das ist wohl nicht übertrieben ausgedrückt – eine Welt zusammenstürzte. Mehr noch: als seine Integrität zutiefst verletzt wurde. Nichts wäre dem Zuschauer verloren gegangen, keine Spannung, kein Inhalt, ja nicht einmal Dramatik, hätte man diese Szene weggelassen und stattdessen einen Ausschnitt aus einem späteren Gespräch genommen, in dem Rohde gewiss immer noch erschüttert genug gewesen wäre, um das Publikum ausreichend mit Emotionen zu versorgen.
    Nun kann man dem entgegenhalten: Armin Rohde ist Profi. Er kennt sich mit dem Fernsehen aus. Wenn er den Dreharbeiten und später der Ausstrahlung zustimmte, dann wird er gewusst haben, was er tat. Aber so einfach ist das in diesem Fall nicht. Für ihn, den Traumatisierten, hätten andere die Entscheidung übernehmen müssen. Bleiben wir beim Beispiel des Schwerverwundeten: Würde der Notarzt einem Verunglückten zutrauen, dass der schon wissen wird, wie er sich richtig verhält, damit sich sein Zustand nicht noch verschlimmert?
    Als der Schauspieler unmittelbar nach seiner Entblößung in einer Reihe von Interviews wiederholte, er habe diesen Großvater aus seiner Familie gestrichen, sah

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