Kriegsenkel
Demokratie auch innerhalb der Familie sei, und nun dieser Verrat! Da machten meine Eltern mir Friedensangebote: Ich könnte doch alle meine Ferien bei Friedrich und Marga verbringen – ja sogar zwei Wochenenden im Monat, sie würden mir das Fahrgeld spendieren. Heute glaube ich, meine Eltern haben mich vor vollendete Tatsachen gestellt, weil sie wussten, ich hätte ihnen andernfalls wochenlang die Hölle heiß gemacht. Ich bin keine leicht lenkbare Tochter gewesen. Ich war es gewohnt, meinen Willen durchzusetzen. Das lag aber an meinen Eltern. Sie verhielten sich mir gegenüber so, als seien sie mir etwas schuldig – eine glückliche Kindheit. Und glücklich war ich in ihren Augen [112] dann, wenn ich gut drauf war. Okay, ich war immer gut drauf, wenn ich bekam, was ich wollte. Meine Eltern hatten ein schlechtes Gewissen, weil sie als Anwälte zu viel arbeiteten und viel zu wenig Zeit mit ihrem Kind verbrachten. Sie waren unglaublich tolerant mir gegenüber, hatten für alles Verständnis. Andere in meinem Alter liefen als Punk herum, um ihre Eltern zu provozieren. In meinem Fall, das wusste ich, konnte ich mir die Mühe sparen. Mutter hätte nur amüsiert gelacht und mich mit guten Tipps versorgt, zum Beispiel, auf welchem Flohmarkt es die passenden Klamotten zu kaufen gab.
Macht über den Vater
Wenn ich ehrlich gewesen wäre, hätte ich mir eingestehen müssen, dass es mir in der neuen Umgebung gut gefiel. Es handelte sich um eine Universitätsstadt voll junger Leute. Aber ich dachte nicht daran, meinen Eltern diesbezüglich Entwarnung zu geben. Ich war immer noch tief gekränkt, weil sie mich in der Umzugsfrage wie ein Kleinkind behandelt hatten. Ich suchte Streit mit ihnen. Weil ich wusste, dass ich Vater am meisten ärgern konnte, wenn ich Großvater verteidigte, reizte ich diese Karte voll aus. Auch drohte ich ihm, mich bei Oma und Opa einzuquartieren und wieder meine alte Schule zu besuchen. Es tat mir gut zu sehen, wie schnell mein Vater aus der Fassung geriet. Auf diese Weile holte ich mir die Macht über meine Familie wieder zurück. Konsequent fuhr ich alle 14 Tage am Wochenende zurück in mein vertrautes Milieu. Dort traf ich mich mit meinen Freundinnen in der Eisdiele. Vorher oder nachher setzten Opa und ich uns wie gewohnt in sein altes Auto und redeten über Pferde.
Einmal erzählte er mir von einem gleichaltrigen Jungen, der seit kurzem im Stall stundenweise aushelfe. Als Gegenleistung durfte er dort reiten. Es stellte sich heraus, dass Timm, so hieß [113] er, meinen Großvater geradezu verehrte. Denn Timm war frisch bei den Neonazis, für ihn war mein Opa ein Held. Er saugte ihn geradezu aus nach Geschichten über Hitler und andere Nazigrößen, über seine Zeit bei der SS, über den Russlandfeldzug. Ich muss sagen: Auch mich faszinierte, was und wie Opa erzählte. Ich hörte das alles ja zum ersten Mal – eine Quelle aus erster Hand. Mein Opa war dabei gewesen! Für mich war klar: Er hatte nichts Unrechtes getan. Krieg ist eben Krieg. Mein Großvater schämte sich nicht, ein Deutscher zu sein.
Mit Parolen hielt er sich zurück, weil er merkte, er war damit nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Aber Timm wurde als Jungaktivist in einer rechtsradikalen Wehrkampfgruppe bei jedem Treffen ideologisch auf den neuesten Stand gebracht. Mit 16 Jahren fühlte er sich als Soldat, und dann noch als einer, der Deutschland vor den Kommunisten rettete – etwas Besseres konnte ihm wohl nicht passieren. Nicht alles, was er von sich gab, gefiel mir. Er war mir zu fanatisch. Er hatte null Humor. Dass er in mich verliebt war, ging mir manchmal auf die Nerven und ich konnte sehr grob zu ihm sein.
Es folgte meine ›rechte‹ Phase. Was als reine Provokation gegen meinen Vater angefangen hatte, fand in der Schule seine Fortsetzung. An meinem neuen Gymnasium gab es eine linke und eine rechte Schülergruppe. Die Rechten, nicht mehr als ein halbes Dutzend, arbeiteten ›undercover‹, die Linken nannten sich offen »sozialistischer Schülerbund«. Im Grunde interessierte mich die Sicht der Rechten auf die deutsche Vergangenheit nicht. Ich wollte nicht »die Wahrheit« über das ›Dritte Reich‹ erfahren. Ob von rechts oder von Seiten unserer 68er-Lehrer: Das Thema NS-Zeit ging mir auf die Nerven – es sei denn, mein Opa erzählte davon, denn bei ihm war es erlebte, lebendige Geschichte.
[114] Lehrer in die Enge treiben
In meiner rechten Schülergruppe ging es mir einzig und allein um Munition gegen ungerechte
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