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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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Vaters war seine Studentenbude. Meine Eltern stammten beide aus Mannheim und hatten sich auf dem Gymnasium ineinander verliebt. Mutter gehörte zu den Mädchen an der Schule, die man kannte, weil sie sich auffällig schön anzog. Ihre Familie war so arm, dass sie bis zu ihrem 12. Lebensjahr nur die Kleidung ihrer Schwestern und Kusinen auftrug. Dann beschloss sie, eigenes Geld zu verdienen, und fing an, jüngeren Schülern Nachhilfestunden zu geben. Darunter war auch eine Schwester meines Vaters.
    Der Vater meiner Mutter war in Russland gefallen. Manchmal sagte sie zu Papa: »Wenn ich mir deinen Vater anschaue, bin ich nur heilfroh, dass ich keinen Vater habe.« Es war ihr ernst damit. Mutter hatte ihren Vater nicht bewusst kennen gelernt, sie vermisste ihn nicht. Ihre Mutter – also meine zweite Großmutter – ist schon vor meiner Geburt gestorben. Mein Vater und meine Mutter befanden sich meistens im Gleichschritt. Beide hatten sie Jura studiert, beide hatten sie großen Ehrgeiz. Sie wollten ein Leben in Wohlstand, was ihnen als hart arbeitende Wirtschaftsanwälte auch gelang.
    Zurück zu Opa. So liebevoll, geduldig und fürsorglich er sich mir gegenüber verhielt – dem Rest der Familie zeigte er vor allem schlechte Laune. Ich fragte ihn mal, warum er denn nie [110] nett mit den anderen sprach, und er meinte nur: »Die gehen mir furchtbar auf die Nerven. Du bist die einzig Vernünftige in der Familie«. Er schenkte mir auch mein erstes Messer und sagte dazu: »Du bist kein schwaches Mädchen. Du kannst es mit jedem Jungen aufnehmen.« Es war ein richtiges Männermesser und sehr alt. Er hatte es schon als Jugendlicher besessen und es wie einen Schatz gehütet. Mir nahm er das Versprechen ab, ich dürfe das Messer niemandem zeigen. Daran habe ich mich zwei Jahrzehnte gehalten.
    »Nazis«, »KZ« und »SS« – was ging mich das an?
    Als Kind und Jugendliche sah ich meine Reitstunden jedes Mal bedroht, wenn Papa und Opa sich stritten. Die immer wiederkehrenden Begriffe waren »Nazis«, »KZ« und »SS«. Als wir auf dem Gymnasium anfingen, die NS-Zeit durchzunehmen – was dann eigentlich bis zum Abitur pausenlos geschah – verbanden sich diese Kürzel mit Unterrichtsstoff, der mir von Anfang an lästig war. Was hatte ich damit zu tun? Was konnte ich dafür, dass ich Deutsche war? Ich konnte nicht akzeptieren, dass uns die Lehrer – was ich damals diffus empfand – ihre eigenen unverdauten Schuldgefühle, die sie an Stelle ihrer Eltern mit sich herumschleppten, rüberdrücken wollten.
    Als ich etwa 15 Jahre alt war, gab es an einem Weihnachtstag wieder einmal Krach, weil Opa »die Sozis« beschuldigte, sie hätten ihm sein Leben versaut, und Oma ihm beipflichtete. Ich verließ den Kaffeetisch und hockte mich in meinem Zimmer vor den Fernseher. Später kam mein Vater und wollte mir den Hintergrund erklären: »Bei Friedrich ist das so, dass …« Aber ich fuhr ihn an, er würde Opa sowieso nur schlecht machen – ich wüsste ja, worauf alles hinausliefe. »Ich kann es nicht mehr hören!«, rief ich. »Du bist doch genauso wie meine Lehrer! Ihr habt doch nichts anderes im Kopf als die Nazizeit. Ihr bibbert [111] doch vor Angst, weil ihr meint, die Nazis würden immer noch frei herumlaufen.« Und dann setzte ich noch einen drauf: »Nimm dir ein Beispiel an einem Mann wie Opa. Der hat wenigstens als Soldat gekämpft!« Vater wurde blass im Gesicht. Ich hatte gewonnen. Als er wieder bei Kräften war und weiter argumentieren wollte, setzte ich mir die Kopfhörer auf und schaute fern.
    Mein Großvater hat mich übrigens nie indoktriniert. Er hat kaum von den Jahren gesprochen, als er ein junger Mann war. Ich wusste, als Soldat hatte er in Weimar gewohnt, und dort war ein Pferd mit dem Namen »Jupiter« sein ein und alles gewesen. Jupiter gehörte einem Vorgesetzten, aber mein Opa durfte das Tier reiten, wann immer er dienstfrei hatte. »Das ist meine beste Zeit gewesen«, sagte er oft. Dass die Fotos, die er von Jupiter besessen hatte, in den Nachkriegswirren verloren gingen, erzählte er mir unter Tränen.
    Als ich 16 Jahre alt war, verlagerten meine Eltern ihre Kanzlei in eine 200 Kilometer entfernte Stadt, und wir zogen fort. Ich weiß nicht, was mir schwerer fiel: der Abschied von meinen Freundinnen oder von Großvater und den Pferden. Ich fand es brutal, dass meine Eltern sich hinter meinem Rücken für den Umzug entschieden hatten. Ich war doch kein Kind mehr! Meine Eltern hatten immer betont, wie wichtig

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