Kriegsenkel
ich darin nichts anderes als einen hilflosen und untauglichen Versuch, seine verletzte Integrität wieder herzustellen.
[107] Opa war doch ein Nazi
Vor einer Reihe von Jahren, während eines Atlantikflugs, hatte mir meine Sitznachbarin eine erschütternde Geschichte erzählt. Sie heißt Angela Dirks* und lebt in Kalifornien. In einer E-Mail schilderte ich ihr mein Vorhaben und fragte sie, ob sie bereit sei, ihre Geschichte für dieses Buch aufzuschreiben. Sie erbat einige Tage Bedenkzeit. Dann willigte sie ein. Sie sagte, damals, als wir uns im Flugzeug kennen lernten, habe sie mehr geahnt als gewusst. Danach sei viel passiert. Eine Woche später schickte sie mir ihren Bericht, den ich, mit ihrem Einverständnis leicht redigiert und gekürzt, hier wiedergebe.
Als ich etwa fünf Jahre alt war – jedenfalls noch kein Schulkind – nahm mich mein Großvater zum ersten Mal mit zum Reiten. Er setzte mich auf ein Pony und ging die ganze Zeit neben mir her. Ich war total glücklich. Wieder zu Hause erzählte ich meinen Eltern: »Opa hat gesagt, wenn wir den Krieg gewonnen hätten, würde er mir jetzt ein Pony kaufen.« Mein Vater explodierte. Er wollte nicht, dass ich noch ein zweites Mal mit dem Opa zum Reiten ginge. Er tobte. Ich weinte. Da gab mein Vater nach.
Meine Liebe zu Großvater und meine Liebe zu Pferden gehören zusammen. Bei meiner Einschulung meinte er, ich sei jetzt groß genug, um richtig reiten zu lernen. Auf einem Reiterhof wurde ihm erlaubt, mir auf einem Pony Unterricht zu geben. Und als er mit meinen Fortschritten nicht mehr mithalten konnte, hat er mir Reitstunden bezahlt. Er selbst war seit dem Krieg nicht mehr geritten. Er konnte es sich nicht mehr leisten. Ich fand als Kind nichts Besonderes dabei, dass er mich verwöhnte. Denn erstens war ich sein einziges Enkelkind, und zweitens erfüllten mir auch meine Eltern so gut wie jeden Wunsch. Großvater war nur ein kleiner Angestellter gewesen, [108] der später eine entsprechend kleine Rente bezog. Ich sehe noch sein besorgtes Gesicht beim Tanken, wenn er den Geldbetrag für das Benzin wachsen sah.
Ich war als Kind mächtig stolz auf meinen Großvater, weil er alles über Pferde wusste. Ich genoss es, dass er soviel Zeit mit mir verbrachte. Ich lernte schnell. Es dauerte nicht lange, und wir konnten zusammen ausreiten. Wir, zwei Pferdenarren – zwei Komplizen. Heute weiß ich: Ich war der einzige Mensch in der Familie, der ihn liebte und respektierte. In seiner Abwesenheit war er für seine drei Kinder – meinen Vater und seine beiden Schwestern – eine Art Witzfigur. Was sie ernst nahmen, waren seine cholerischen Anfälle, weshalb sie sich meistens in seiner Gegenwart mit Bemerkungen zurückhielten. Sie nannten ihn nicht Vati oder Papa, sondern bei seinem Vornamen, Friedrich, und die Großmutter nannten sie Marga. Saß meine Oma dabei, wenn über Friedrich Witze gemacht wurden, lächelte sie jungmädchenhaft amüsiert. Ich glaube, sie verachtete ihren Mann, weil es ihm nie gelungen war, sie aus dem »Elend«, wie sie ihren Alltag nannte, herauszuführen. Sie hielt ihn für einen Versager – während sie ihren erfolgreichen Sohn vergötterte. In Großvaters Gegenwart hielt Marga zu ihm. Zum Beispiel, wenn Friedrich zum hundertsten Mal wiederholte, die Sozis seien am allem Schuld. Nur ihnen habe er seine berufliche Misere zu verdanken.
Vater und Sohn im Dauerstreit
Obwohl meine Großeltern in derselben Stadt lebten, traf man sich als Familie immer seltener. Wenn doch, brüllten sich Papa und Opa nach kürzester Zeit an und einer der beiden verließ den Tisch. »Der alte Nazi macht mich wahnsinnig«, sagte Papa oft. Mama meinte dazu: »Lass ihn doch reden. Den änderst du doch nicht mehr«. Und mein Vater schnaubte: »Eben. Darum [109] will ich nicht, dass er diese SS-Scheiße auch noch in meine Tochter einpflanzt.« Aber weder er noch Mama brachten es über das Herz, mir etwas zu verbieten, das mich so unübersehbar glücklich machte. Außerdem glaubten sie, man dürfe einem Kind nicht den Großvater vorenthalten.
Meine Eltern waren beide Anfang der vierziger Jahre zur Welt gekommen. An die Kriegszeit hatten sie kaum Erinnerungen, dafür umso mehr an eine Stadt in Trümmern und ihr Aufwachsen in erbärmlichen Verhältnissen. Für mich unfassbar: Die fünfköpfige Familie meines Vaters lebte auf 55 Quadratmetern. Ich kenne die Wohnung gut, denn meine Großeltern blieben dort, als ihre Kinder ausgezogen waren. Das erste eigene Zimmer meines
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