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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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müssten sich zu Fuß auf den Weg machen. Es wurde also nicht evakuiert, sondern Frauen, Kinder und Alte wurden aus der Stadt geworfen, bei 20 Grad Kälte. Später wird man dem Geschehen einen Namen geben: »Der Todesmarsch der Breslauer Mütter«. Ungefähr 60 000 brachen in diesen Januartagen auf. Tausende verloren ihr Leben, darunter viele Kinder. Eine dieser schlesischen Mütter notierte in ihren Erinnerungen: »Meinem Baby fror die Windel am Körper fest. Ein vor Kälte [99] und Hunger sterbendes Kind. Keine Mutter vergisst so etwas.« Zeugen berichteten von unzähligen erfrorenen Leichen entlang des Fluchtwegs, vor allem tote Babys. In panischer Angst waren sie zurückgelassen worden.
    Tote Babys am Straßenrand
    Wie soll jemand Vertrauen ins Leben entwickeln, der im Alter von vier Jahren erlebte, dass Babys am Straßenrand liegen gelassen wurden? Und wie soll er, wenn er einmal selbst Kinder hat, diesen das Gefühl vermitteln, dass die Erde ein sicherer Ort ist? Was geschieht mit Menschen, die im Kleinkindalter einer kollektiven Katastrophe ausgeliefert waren? Wie groß sind die Chancen, später die emotionale Reife eines Erwachsenen zu erlangen?
    Glück hatten jene Kinder, die danach von liebevollen und einfühlsamen Eltern gestärkt wurden. Glück hatten jene, deren seelische Wunden Zeit hatten zu heilen. Aber wie sieht es mit den anderen aus, die kein Glück hatten, weil ihre Eltern noch Jahre nach Kriegsende ausschließlich mit dem Überleben beschäftigt waren? In solchen Familien hieß es: Kinder haben zu gehorchen. Kinder haben still zu sein. Wer nicht hören will, muss fühlen.
    Andrea Vetter weiß kaum etwas über die Zeit nach der Flucht. Nur so viel: Luises Mutter kam mit ihrer Tochter bei einem Bauern in Norddeutschland unter. Von morgens bis zur Dämmerung schuftete die Flüchtlingsfrau auf dem Feld. Als Lohn bekam sie Brote mit Rübenkraut. Auf diese Weise überlebten sie. Andrea Vetter kann nicht sagen, wie lange die elenden Verhältnisse bestanden. Aber das zu wissen ist vielleicht auch gar nicht wichtig, um sich in eine Vierjährige hineinzudenken. In diesem Alter, in dem Zeit noch völlig anders empfunden wird, dehnen sich Wochen zur Ewigkeit. Für dieses Kind war eine [100] Welt untergegangen. Es war in eisige Kälte und Heimatlosigkeit gestoßen worden. Es hatte die Horrorbilder einer Flucht in sich aufgenommen. Wie viel Geborgenheit kann ihm eine Mutter geben, die jeden Morgen in aller Frühe aufstehen und arbeiten gehen muss?
    Über das Nachkriegselend hörte Andrea Vetter nur den Satz: »Es waren schlechte Zeiten.« Kein Wort über Hunger, weder von der Mutter noch vom Vater, der 1934 im Ruhrgebiet geboren wurde. Über seine Kindheit im Krieg redete er so gut wie nie. Dass Alfred Vetter* ausgebombt wurde, erfuhr seine Tochter irgendwann beiläufig. Der Vater sprach auch nicht von der permanenten Angst in seiner Familie, Angst durch Naziterror. Josef Vetter* – Andreas Großvater – war Jude. Dessen Frau ignorierte die Aufforderung der Nationalsozialisten, sich scheiden zu lassen. Es geschah möglicherweise nicht aus Liebe, denn ihre Ehe war nicht gut. Josef Vetter hatte ständig Freundinnen. Wie auch immer: Ohne die Standfestigkeit seiner Frau hätte er vermutlich nicht überlebt.
    Doch wäre es naiv zu glauben, es habe für Josef Vetter während der Nazizeit so etwas wie eine Entwarnung gegeben. Eine nichtjüdische Ehefrau bot keinen verlässlichen Schutz. Die Gefahr konnte sich jederzeit in Lebensgefahr verwandeln: Wie lange noch würde die Regelung gelten, wonach die jüdischen Ehepartner verschont blieben? Schon jetzt gab es Ausnahmen. So mancher jüdische Ehemann war von der Straße weg eingefangen worden. Seine nächste Station war dann der Bahnhof, die übernächste ein KZ gewesen. Es hatte gereicht, dass er einen Judenstern trug.
    [101] Verwandte von den Nazis ermordet
    Wie Andrea Vetter bei einem Verwandtschaftstreffen in Paris erfuhr, war es den wohlhabenden Familien gelungen, Deutschland rechtzeitig zu verlassen. Die armen Verwandten wurden ermordet. Ohne Frage hatte die Verfolgung durch die Nazis in Andrea Vetters Familie Spuren hinterlassen, aber für die Nachkommen waren sie kaum zu erkennen. Im Vordergrund der Familiengeschichten stand stets der vermeintlich schlechte Charakter von Andreas Großvater. Nach dem Krieg war Josef Vetter schnell zu Wohlstand gekommen. Während die meisten Deutschen noch auf dem Fahrrad unterwegs waren, konnte er sich eine Luxuslimousine

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