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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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hatte. Er sah fast verwahrlost aus. Sein Anzug war zerdrückt, das Gesicht verquollen, das Haar wirr in der Stirn. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mir um ihn Sorgen machte. Aber als er sich zwei Tage Erholung gegönnt hatte und mir erzählen wollte, was vorgefallen [119] war, machte ich schon bei seinen ersten Sätzen dicht. Ich wollte nichts von irgendwelchen angeblichen Schandtaten von Opa hören. Ich war gerade dabei, mich daran zu gewöhnen, dass er tot war. Niemand durfte mir meine Erinnerung an ihn zerstören!
    Erst fünfzehn Jahre später, als sich langsam ein Vertrauensverhältnis zwischen meinem Vater und mir aufgebaut hatte, erzählte er mir von seinem Schock in Weimar im Jahr 1990. Die Vorgeschichte begann so: Schon in den vergangenen Jahrzehnten hatte er immer wieder daran gedacht, einmal nach Weimar zu fahren. Aber zur DDR-Zeit hatte er sich dazu nicht aufraffen können. Um einreisen zu dürfen, hätte er eine Einladung von Verwandten gebraucht. Aber er selbst verfügte nicht über die nötigen Kontakte, er hätte seinen Vater als Vermittler einschalten müssen, und das scheute er. Er hatte keine Erinnerung an seine Geburtsstadt. Als er drei Jahre alt war, schlug sich seine Mutter Marga mit ihm und seiner jüngeren Schwester in den Westen durch. Ihr Mann folgte drei Jahre später. 1949 kam Vaters jüngste Schwester zur Welt.
    Und wieder ein Zeitsprung: Auf Friedrichs Beerdigung im Jahr 1990 hatte mein Vater mit einer ihm bis dahin unbekannten alten Tante gesprochen. Die hatte ihm aus der Erinnerung die alte Adresse seiner Eltern in Weimar genannt. Was er dort vorfand, war eine Häusersiedlung auf dem Ettersberg, die für Angehörige der SS und ihre Familien errichtet worden war. Zehn Minuten Fußweg entfernt lag das Konzentrationslager Buchenwald. Mein Großvater hatte nicht nur der Waffen-SS angehört, sondern gleichfalls den »Totenkopfverbänden«. Mein Großvater war KZ-Aufseher gewesen! In den letzten beiden Kriegsjahren hatte er dann tatsächlich am Russlandfeldzug teilgenommen.
    Ich würde gern beschreiben, wie es mir erging, als ich von Großvaters KZ-Einsatz erfuhr, aber ich kann es nicht. Dafür müsste ich Literatin sein. Ich weiß nur, dass ich danach über [120] zwei Monate schwerste Nackenbeschwerden hatte, die unerträgliche Kopfschmerzen produzierten. Ich dachte, mein Schädel werde platzen. Die Nackenwirbel waren schon seit Jahren meine Schwachstelle gewesen. Aber diesmal versagte jede Behandlung. Ob Massagen, Spritzen, konventionelle Medikamente oder homöopathische Mittel – nichts schlug an. Dennoch entschloss ich mich, mit meinem Vater nach Weimar zu reisen. Wir standen vor dem Haus, in dem meine Großeltern mit ihren kleinen Kindern gewohnt hatten. Ich sah vom Ettersberg aus hinunter auf die endlose Ebene und stellte mir vor, wie Opa als junger Mann dort mit Jupiter im Galopp geritten war. In der Gedenkstätte Buchenwald führte mich mein Vater zur Genickschussanlage.
    Genickschuss!
    Am Abend im Hotel fiel mir eine merkwürdige Angewohnheit meines Großvaters ein: Wenn er meinte, es sei an der Zeit, ein Thema oder eine Situation zu beenden, zischte er kaum verständlich etwas, das wie »Genickschuss« klang. Es war mehr ein Geräusch als ein Wort. Opa erklärte mir einmal, es bedeute so etwas wie »Basta«.
    Während ich erzählte, schaute mein Vater mich ungläubig an. Er hatte das Wort »Genickschuss« oder etwas Ähnliches nie von Friedrich gehört. Ich fragte ihn, ob es sein könne, dass er grundsätzlich nicht genau hingehört habe, wenn der etwas sagte, und Vater bestätigte: »Genauso war es. Ich konnte sein Gerede nicht ertragen.« An diesem Abend in einem schönen Hotel im schönen Weimar, das die Wende erneut zum Blühen gebracht hatte, haben Vater und ich uns zum ersten Mal gemeinsam betrunken. Beim Frühstück brach er in lautes Lachen aus, weil ich sagte: »Mein Kater ist mir egal, ich habe ja sowieso immer Kopfschmerzen.«
    [121] Aber das Verblüffende war: Die Schmerzen tauchten danach nicht mehr auf. Ich hatte keine Nackenbeschwerden mehr. Sie kamen auch nicht wieder. Ich bin Naturwissenschaftlerin und halte mich üblicherweise an harte, überprüfbare Fakten. Aber ich habe in den vergangenen Jahren über den Zusammenhang von NS-Verbrechen und Psychosomatik bei den Nachgeborenen soviel gehört und gelesen, dass ich die Ursache meiner Nackenprobleme Großvater zuschreibe.
    Mein Vater erzählte mir seitdem auch mehr aus

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