Kriegsenkel
langweilten ihn.
Um Torsten möglichst oft zu sehen, hatte ich meine Wochenendbesuche bei den Großeltern stark eingeschränkt. Opa litt zunehmend an Hüftproblemen. Das Reiten fiel ihm schwer, und er verzichtete immer häufiger darauf. Wenn ich von einem Ausritt zurückkam, fand ich ihn meistens mit Timm in ein Gespräch vertieft, beim bekannten Thema. Ich beteiligte mich nicht mehr daran. Auch meine rechten Provokationen im Unterricht hatte ich inzwischen eingestellt, nachdem Torsten mir klargemacht hatte, ein solches Verhalten sei kindisch. Die Lehrer trugen es mir auch nicht nach, es wurde als eine »Phase der Verirrung« verbucht. Ich war sehr gut in der Schule, vor allem in Naturwissenschaften. Das zählte mehr als alles andere.
Die Sache mit dem jüdischen Friedhof
Eines Tages sagte Timm, er habe den ersten wichtigen Auftrag seiner Kampfgruppe vor sich. Was, dürfe er nicht sagen. Es sei streng geheim. Aber er konnte es gar nicht für sich behalten: Er [117] und ein Kumpel würden auf einem jüdischen Friedhof Grabsteine mit Hakenkreuzen bemalen. Großvater schmunzelte und meinte: »Bei dem Streich dürft ihr euch aber nicht erwischen lassen.« Und ich sagte zu Timm, ich hielte das Ganze für eine saublöde Aktion.
Ich dachte, Torsten würde müde abwinken, wenn ich ihm davon erzählte, aber er verhielt sich völlig anders. Er forderte mich auf, herauszufinden, um welchen Friedhof es sich handele, und die Sache bei der Polizei zu melden. Ich fand seine Reaktion übertrieben. Zu viel Ehre für Timm und sein schwachsinniges Vorhaben. Na gut, es war nicht in Ordnung, wie mein Opa darauf reagiert hatte. Er war eben ein Nazi. Das gab ich Torsten gegenüber zu. Aber kein schlimmer Nazi. In meinen Augen war er ein alter Mann, der irgendwelchen Jugendträumen nachhing. Der hatte bestimmt nichts mit den NS-Verbrechen zu tun. Und der Waffen-SS – das hatte ich irgendwo mal gehört – waren viele junge Männer nicht einmal freiwillig beigetreten. Man hatte Seite an Seite mit der Wehrmacht gekämpft. Alles doch ziemlich normal, fand ich. Leute wie Opa gab es massenhaft. Torsten und ich redeten dann nicht mehr darüber. Ein halbes Jahr später trennte er sich von mir. Ich trauerte ihm ein ganzes Jahr nach, schaffte aber trotzdem mein Abitur und entschied mich danach für ein Studium der Mathematik. Ich blieb bei Vater wohnen, weil es so bequem war.
Dass ich schließlich das Reiten aufgab, lag an einer Pferdehaar-Allergie. Sie fing an, als ich etwa 16 war. Ich bin aber trotzdem immer weiter geritten, mit Nasenspray und Tabletten. Nach dem Reiten die verquollenen Augen. Aber das war noch das Geringste. Mein Asthma wurde immer heftiger. Irgendwann ging es einfach nicht mehr. Danach mied ich den Kontakt mit Opa, denn über was außer über Pferde hätten wir reden können? Aber genau das wollte ich nicht mehr.
Großvater, 1917 geboren, starb mit 73 Jahren an einem Herzinfarkt. Es standen nur wenige Menschen an seinem Grab: [118] Oma, meine Eltern, Vaters Schwestern und deren Männer, zwei alte Verwandte aus Ostdeutschland, Timm, einige Nachbarn, der Hausarzt. Meine Oma weinte, Timm weinte, ich weinte, sonst niemand. Der Pfarrer hob in seiner Ansprache hervor, mein Großvater habe es nicht leicht gehabt in seinem Leben, angefangen mit dem Krieg, in den er als junger Mensch habe ziehen müssen. Er sei ein Mann gewesen, der niemandem nach dem Mund redete, obwohl er wusste, dass seine Meinung nur von wenigen Menschen geteilt wurde. An dieser Stelle ächzte mein Vater laut.
Meine Großmutter sagte, als sie sich von mir unter Tränen verabschiedete: »Jetzt kommst du wohl überhaupt nicht mehr zu uns.« Im Geiste hatte sie Opa immer noch neben sich. Ich versicherte ihr, nein, nein, ich würde sie so oft wie möglich besuchen. Gleichzeitig wusste ich, dass ich log, und schämte mich, weil ich, verglichen mit meinem Opa, nicht besonders aufrichtig war. Als mein Vater und ich von der Beerdigung heimfuhren, sprachen wir vorsichtshalber nicht von Friedrich, sondern über den Mauerfall, der damals erst wenige Monate zurück lag. Dann sagte Vater zu meiner Überraschung: »Ich habe mich entschlossen, endlich einmal nach Weimar zu fahren. Ich bin dort geboren und kenne die Stadt überhaupt nicht. Komisch, nicht wahr? Hast du Lust mitzukommen?« Ich lehnte dankend ab, und er nahm es kommentarlos hin, wie gewöhnlich.
Von Schandtaten wollte ich nichts hören
Mein Vater kam einen Tag früher aus Weimar zurück, als ich erwartet
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