Kriegsenkel
Behandlung im Unterricht. Ich sah mich nicht als Nazi, ich wollte mir nur nicht mehr alles gefallen lassen. Besonders sauer war ich auf unseren Geschichtslehrer. Wenn er mal wieder seine furchtbar trockenen Fakten zur NS-Zeit ausbreitete und ich mich hinter seinem Rücken mit etwas anderem beschäftigte oder gar lachte, dann konnte er völlig ausrasten.
In der rechten Gruppe kursierten Schriften, die uns mit Argumenten versorgten, wie wir unsere Lehrer während des Unterrichts in die Enge treiben konnten. Wir machten uns einen Sport daraus. Der Trick war, einfach zu behaupten, sie, die Lehrer, würden ja nur Behauptungen aufstellen. Dann fragte man sie etwas zu einem komplizierten Sachverhalt, der eigentlich nicht zum Unterrichtsstoff gehörte – mit der scheinheiligen Bitte um Klarstellung und eindeutigen Nachweis. Und schon saßen sie in der Falle. Sie bemühten sich um eine Antwort, sie verhedderten sich. Unsere Reaktion war gehässiges Lachen. Einmal verlor unser Geschichtslehrer völlig die Nerven und brüllte: »Sie haben meinen Vater im KZ umgebracht!« Und ich konterte: »Na und? Was kann ich denn dafür.«
So etwas wie Mitleid mit ihm war mir völlig fremd. Das beschäftigt mich heute am meisten. Ich war in meiner Jugend nicht grundsätzlich gefühllos. Am besten konnte ich mich in Pferde einfühlen. Es gab Menschen und Themen, die mich interessierten, und solche, die mich nicht interessierten. Was mit den Menschen der zweiten Kategorie passierte oder was sie womöglich früher einmal erlitten hatten, ließ mich kalt. Sechs Millionen ermordete Juden – für mich nicht mehr als eine Zahl. Was ich davon erfasste, war rein rational. Es handelte sich um Unrecht. Es durfte nie wieder passieren. Ich fand es albern, wenn mein Pferdefreund Timm die Opferzahlen immer wieder [115] runterhandeln wollte. Mehr war dazu eigentlich nicht zu sagen.
Darüber hinaus gab es noch eine dritte Kategorie von Menschen, die mich interessierte, aber nervte. Dazu gehörten in jenen Jahren meine Eltern. Mein Blick auf sie war schärfer geworden. Ihre Ehe war längst nicht so gut, wie sie es mir hatten weismachen wollen. Eigentlich entsprach meine kritische Haltung durchaus meinem Alter. Aber entgegen meiner früheren Art konfrontierte ich sie, als ich älter wurde, nicht mehr. Ich zog mich von ihnen zurück, nicht nur real sondern auch emotional. Wie ich die Sache heute sehe, verhielten meine Eltern sich ähnlich. Vor allem mein Vater war tief geschockt, weil ich, wie ihm zugetragen worden war, in der Schule »Hitler verteidigte«. Mutter versuchte anfangs noch, zwischen ihm und mir zu vermitteln, resignierte dann aber auch.
Tränen und Scheidung
Einmal, als ich nach einem Wochenende bei meinen Großeltern nach Hause kam, saß meine Mutter weinend in der Küche und meinte, sie würde meinen Vater nicht mehr lieben, sie könne das Zusammenleben mit ihm nicht mehr ertragen – und sie habe schon lange einen Freund. Ich hockte mich neben sie und ließ sie erzählen. Ich dachte, ich müsste erschüttert sein, aber ich war es nicht. Mutter meinte, Vater arbeite zuviel und er trinke zuviel. Sie und er hätten sich auseinander gelebt. Das alles wusste ich schon vorher, nur Mamas Freund bedeutete für mich eine Neuigkeit.
Ich kann es kurz machen. Die Ehe meiner Eltern wurde ein Jahr darauf geschieden. Mutter zog zu ihrem Freund und war fortan fast ausschließlich mit ihm beschäftigt. Wir telefonierten häufiger, trafen uns aber nur noch alle paar Wochen. Ich vermisste sie nicht. Wir lebten in völlig unterschiedlichen Welten. Bei [116] meinem Vater und mir war es nicht anders, obwohl wir uns eine Wohnung teilten. Er machte keine Anstalten, mich zu kontrollieren. Es war ihm egal, ob ich nachts nach Hause kam oder nicht. Ich schlief weniger, als ich sollte. Er trank mehr, als ihm gut tat.
Mit 17 Jahren verliebte ich mich in einen Schüler, der gerade das Abitur gemacht hatte. Er hieß Torsten. Mit ihm hatte ich meinen ersten Sex. Mutter nahm mir das Versprechen ab, zu verhüten – mehr gab es aus ihrer Sicht dazu nicht zu sagen. Ich hing sehr an meinem Freund, aber er hatte nur wenig Zeit für mich. Torsten begann ein Studium an der Musikhochschule, er spielte Gitarre in zwei Bands, Jazz und Pop, er wollte Berufsmusiker werden. Ich ging zu jedem Auftritt seiner Band, saß ganz vorn und himmelte ihn an. Torstens Interesse an meiner Welt war dünn. Einmal nahm ich ihn mit auf den Reiterhof, aber die Pferde und Opas Erzählungen
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