Kriegsenkel
seiner Kindheit: Friedrich hatte seine Familie mit seinen Launen und seinen Wutanfällen tyrannisiert. Gewalttätig wurde er nicht. Aber er beschimpfte seine Kinder, auch als sie noch sehr klein waren, aufs Übelste. »Du Missgeburt! Dir werde ich Beine machen! Du elender Krüppel! Erschlagen sollte man dich!« So hatte er im KZ herumgebrüllt, so tat er es später in seiner Familie. Niemand bremste ihn.
Ein einfacher Hilfsarbeiter
Großvater hatte nur die Volkschule besucht. Danach war er Hilfsarbeiter gewesen, und auch in der SS gab es keinen nennenswerten Aufstieg. Nach Kriegsende lebte er drei Jahre unter falschem Namen im Westen, bis er 1948 die Zuversicht hatte, er werde mit ein bisschen Geschick beim Entnazifizierungsverfahren unauffällig bleiben. Er gab sich als ehemaliger russischer Kriegsgefangener aus, dem die Entlassungspapiere gestohlen worden waren. Die Sache ging gut für ihn aus. Er wurde als Mitläufer eingestuft. Seine Familie hatte wieder einen Vater, der allerdings für seine Kinder ein Fremder war.
Er versuchte sich als Vertreter in Textilien und ging mit einem Koffer von Haus zu Haus. Aber der Umsatz reichte nicht für eine fünfköpfige Familie. Friedrich sehnte sich nach etwas Sicherem. Er wollte Postbeamter werden. Tatsächlich wurde er [122] in den fünfziger Jahren im Fernmeldewesen eingestellt. Doch auch hier kam er nicht weit. Ein Kollege, ein ehemaliger Häftling aus Buchenwald, erkannte ihn wieder und informierte den Personalrat. Der wurde aktiv, und es stellte sich heraus, dass Friedrich bei seiner Einstellung seine SS-Zeit verschwiegen hatte. Die Folge: Er wurde zwar nicht gefeuert, aber nie wieder befördert und erst recht nicht verbeamtet. Er blieb ein kleiner Angestellter und verdiente Zeit seines Lebens kaum mehr als ein Berufsanfänger. Daher sah er sich als Opfer »der Sozis«, denn in seinen Augen bestand der Personalrat ausschließlich aus solchen. In Buchenwald hatte er diese Gruppierung vermutlich eine »Bande von Krüppeln« genannt. Friedrich war zutiefst davon überzeugt, dass eigentlich auch er eine Rente als Verfolgter verdient hätte: »Die Sozis« hatten ihn gejagt und zur Strecke gebracht. Warum sah das außer ihm keiner? Warum starrten alle nur auf die Juden?
Obwohl mein Vater und seine beiden Schwestern schon früh wussten, dass ihr Nazi-Vater der SS angehört und nach Kriegsende drei Jahre unter falschem Namen gelebt hatte, kamen sie nicht auf die Idee, seine Auskünfte über seine Vergangenheit zu überprüfen. Dabei hätte es nur einer Reise nach Weimar und eines Gesprächs mit dort lebenden Verwandten bedurft, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Mein Vater erklärte mir seine Zurückhaltung damit, man sei als Kind, auch wenn man sich mit dem Vater schlecht verstehe, durch Loyalität an ihn gebunden. Ihm hätte es gereicht zu wissen, dass sein Vater ein unverbesserlicher Nazi war. Auch habe er ihn für so beschränkt gehalten, dass er ihn allein deshalb als Täter nicht in Betracht gezogen habe. Natürlich hätte er es besser wissen müssen auf Grund der Auschwitz-Prozesse in den 1960er Jahren, gab mein Vater zu. »Aber das für mich so Beschämende ist: Bis ich auf dem Ettersberg stand, war ich fest davon überzeugt, ich hätte mich deshalb ständig mit dem Nationalsozialismus befasst, weil mir die Wahrheit so wichtig war. [123] Heute weiß ich aber: Indem ich mich auf Geschichte und Politik stürzte, habe ich Fakten geschaffen, die ich handhaben konnte. Ich konnte mich gleichzeitig dahinter verstecken. Ich vermied die Recherche in der eigenen Familie, denn damit, befürchtete ich wohl insgeheim, wäre ich emotional nicht fertig geworden.«
Amerika – meine Rettung
Es gibt Freundinnen, die behaupten, ich sei während des Studiums nach Amerika geflüchtet. Mag sein, dass es eine Flucht war. Aber in meinem Fall, glaube ich heute, war sie lebensrettend. Als ich in den neunziger Jahren ein Stipendium für eine kalifornische Universität erhielt, dachte ich – gerade 23 Jahre alt – mein Aufenthalt in den USA würde nicht länger als vier Semester dauern. Ich war nicht auf der Suche nach einer neuen Heimat, aber nach Opas Tod wuchs in mir das Gefühl, es würde mir gut tun, für eine Weile Deutschland den Rücken zu kehren. Aber man darf nicht unter amerikanischen Intellektuellen leben, wenn man Fragen zu Hitlerdeutschland vermeiden will. Die Amerikaner sind neugierig. Vor allem auf dem Campus wurde mir mit Fragen enorm zugesetzt. Die Gleichaltrigen
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