Kriegsenkel
verwirrten Erwachsenen. Ich betrauerte die 250 000 Lagerinsassen des KZ Buchenwald, die mit ihren Alpträumen hatten weiter leben müssen, und ich betrauerte die über 50 000 Toten.
Ich zeigte Dr. Barnes das Messer, das mein Großvater mir als Kind geschenkt hatte. Der Psychologe machte ein besorgtes Gesicht und meinte, ich müsste mich eines Tages davon trennen. Am besten sei es, ich könnte es mit einem Ritual verbinden. Daran musste ich später noch oft denken.
Erneut begann ich zu weinen, diesmal nicht aus Trauer, sondern aus Scham. Ich schämte mich für meine Mitleidlosigkeit meinem Geschichtslehrer gegenüber, dessen Vater im KZ umgekommen war. Ich schämte mich, weil ich Timms Hakenkreuze auf jüdischen Gräbern für einen Streich gehalten hatte. Und ich schämte mich, weil ich meinen Vater, als er völlig aufgelöst aus Weimar zurückgekehrt war, nicht hatte anhören wollen.
Einige Jahre später, als Vater und ich gemeinsam Weimar und Buchenwald besuchten, entschuldigte ich mich bei ihm. Aber er sagte nur: »Wieso denn? Du konntest doch gar nicht anders. Du hattest doch nur fortgesetzt, was ich in dich hineingepflanzt hatte: bloß nicht genau hingucken.«
Wenige Tage später ging ich zu Großvaters Grab und vergrub sein Messer tief in der Erde. Manchmal träume ich noch von dem Messer, manchmal träume ich von Opa. Dann geht es mir den ganzen nächsten Tag nicht gut. Aber die Träume werden seltener. Ich bin unfruchtbar und werde es bleiben. Fernando und ich überlegen, zwei Kinder aus Lateinamerika zu adoptieren.
[127] Siebtes Kapitel
SOHN IM SCHATTEN
[129] Marathon auf der Theaterbühne
Als ich Matthias Paulig* zum ersten Mal erlebte, rannte er auf einer Theaterbühne 90 Minuten auf einem Laufband und verlor dabei, wie er mir später verriet, fünf Pfund seines Gewichts. Er spielte die Rolle eines tiefsinnigen Marathonläufers. Das ist jetzt zwanzig Jahre her. Der Schauspieler lebt in einer westdeutschen Großstadt, wo er 1960 geboren wurde. Auch wenn man ihm ansieht, dass er noch immer regelmäßig Sport treibt, würde er sich derartigen körperlichen Herausforderungen heute nicht mehr stellen. Muss er auch nicht. Er muss in seiner Branche nicht mehr auffallen, denn in der lokalen Theaterszene ist sein Name ein Begriff. In jeder Saison steht er in seiner Heimatstadt auf der Bühne. Dazu kommen Aufträge für Nebenrollen im Fernsehen. Er ist blond, gut aussehend, er verfügt über ein breites Repertoire. Sogar singen kann er. Obwohl schon Ende Vierzig, sieht er weit jünger aus. Zuletzt spielte er einen Dreißigjährigen, den die Torschlusspanik plagte.
Auch seine Frau verdient recht gut; sie leitet eine soziale Einrichtung. Die Eheleute leben in einer Fünf-Zimmer-Eigentumswohnung, deren minimalistische Einrichtung mich beeindruckte. Soweit ich in Erinnerung habe, stehen im Esszimmer, wo unser Gespräch stattfand, kaum mehr als ein überlanger Familientisch und die dazugehörenden Stühle. Die beiden Kinder, erfuhr ich, seien inzwischen erwachsen und ausgezogen.
Ich erlebte Matthias Paulig völlig anders, als er mir von seinen Theaterauftritten im Gedächtnis war. Da hatte er selbst große Bühnen scheinbar mühelos mit seiner Präsenz gefüllt. Hier, in dem sparsam möblierten Raum mit seinen hohen Decken, der mich gleichfalls an eine Bühne erinnerte, machte er auf mich einen etwas verlorenen Eindruck. Vielleicht war der [130] Kontrast darauf zurückzuführen, dass er mir nicht mit der Energie eines Schauspielers begegnete, während er mir ein klein wenig eine Tür zu seinem Inneren öffnete. Weil er befürchtete, das Mikrophon meines Aufnahmegeräts könne ihn beim Erzählen hemmen, machte ich mir Notizen. Durch seinen Fall wurde mir besonders deutlich vor Augen geführt: Kriegsgewalt lebt länger als ein Krieg dauert. Nicht selten leiden die Opfer bis zu ihrem Tod unter ihren Traumata, und das Gift der Gewalt wirkt noch eine Generation später.
Wenn Kinder eine leichte Beute sind
In Zeiten des Elends und der gesellschaftlichen Willkür erhöht sich für Kinder das Risiko, einem Gewalttäter in die Hände zu fallen. Wenn die Eltern rund um die Uhr mit Überleben beschäftigt sind, beschränkt sich ihre Fürsorge im Wesentlichen darauf zu verhindern, dass ihre Kinder an Hunger oder an einer Krankheit sterben. Aufmerksamkeit und Schutz sind auf ein Minimum herabgesetzt. Unter solchen Umständen sind Kinder eine leichte Beute. In Kriegszeiten sind die Täter häufig Soldaten, denn es werden
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