Kriegsenkel
verhielten sich diesbezüglich viel unbefangener, als ich es von zu Hause kannte.
Kein Wunder, sie waren nicht mit deutschen Tabus großgezogen worden, sondern mit amerikanischen. Nach einigen Wochen hatte ich mir eine Familienversion zurechtgelegt: Ja, mein Großvater hatte an Hitler geglaubt, er war in den Krieg gezogen, er hatte in Russland gekämpft, er war nach dem Krieg als Mitläufer eingestuft worden. Auf keinen Fall hätte ich seine Zugehörigkeit zur SS bekennen dürfen. Genau das hatte ein Kommilitone, der auch noch aus Nürnberg stammte, bei einer Abendeinladung arglos getan und am Tisch peinlichste Stille ausgelöst.
[124] In Deutschland kann man sich in solchen Situationen darauf verlassen, dass irgendjemand der Anwesenden mit einem »So war das eben früher« drüberbügelt und damit der Tischrunde ermöglicht, sich einem banalen Thema zuzuwenden. Aber in Deutschland sitzen ja auch nur selten Juden am Tisch. In den USA dagegen, zumal im Milieu einer Universität, muss man damit unbedingt rechnen, was das Greenhorn aus Nürnberg nicht bedacht hatte.
In Amerika war mein Opa viel präsenter, als er es in Deutschland gewesen wäre. Denn natürlich hatte ich Vaters Andeutung zu Großvater und Buchenwald nicht völlig verbunkern können. Wenn ich also in Kalifornien als Deutsche zu NS-Verbrechen gefragt wurde, fühlte ich mich keineswegs souverän und quälte mich noch abends im Bett damit, ob ich richtig geantwortet oder Verdacht geweckt haben könnte. Es hatte zur Folge, dass ich nach einigen Monaten Privateinladungen mied und nur noch zu Fachmeetings ging. Das wiederum verschaffte mir als angehende Mathematikerin eine ausgezeichnete Karrierebasis.
Eine neue Familie
Ich blieb in Kalifornien, machte in kürzester Zeit Examen und wurde umgehend von einem renommierten Institut übernommen. Nach vier Jahren USA lernte ich meinen Mann kennen, einen Amerikaner, ebenfalls Mathematiker. Wir nahmen uns eine Wohnung in Santa Barbara. Fernando entstammt einer chilenischen Flüchtlingsfamilie, genau genommen einer Großfamilie. Seine Eltern besitzen ein Restaurant in einer Kleinstadt in New Mexico. Ich mag meine Schwiegereltern. Sie haben einen praktischen Blick aufs Leben. Ich wurde völlig problemlos in ihre Familie aufgenommen.
Mit Anfang Dreißig wurde ich krank, lebensbedrohlich krank. Der Eierstockkrebs zählt zu den aggressivsten Tumoren. Bei mir [125] waren beide Eierstöcke befallen. Am Tag, als Vaters Schwester Gertraud an Krebs starb, hatte ich meine Operation in einer Fachklinik in Los Angeles. Als ich aufwachte, saß meine Mutter am Krankenbett. Sie blieb eine Woche und wollte mich überreden, die anschließende Chemotherapie in Deutschland zu machen. Es zeigte sich, dass ich sie trösten musste und nicht umgekehrt. Sie sagte hundert Mal »Das wird schon wieder«, und es war klar, sie selbst glaubte am wenigsten daran. Sie wollte meine Krankheit unter ihre Kontrolle kriegen. Kraft und Hoffnung bekam ich nicht von ihr. Alles, was ich wahrnahm, war ihre Verzweiflung. Ich spürte – und ich träumte es auch –, ich würde nicht mehr gesund werden, wenn ich Mutter nach Deutschland folgte.
Von meinem Vater kamen derweil E-Mails, in denen er seine besonderen Beziehungen zu medizinischen Kapazitäten darstellte, und was er noch alles zu tun gedenke, damit ich auch garantiert in Deutschland in besten Händen sei. Er versprach am Ende jeder Mail: Morgen weiß ich mehr. Dann melde ich mich wieder. Seine Verzweiflung war nicht geringer als die meiner Mutter. Ich blieb in Amerika und vertraute mich meinem Mann und seinen Eltern an. Es wurde ein hartes erstes Jahr.
Ich ging in eine Rehaklinik am Rande der Rocky Mountains. Vier Wochen blieb ich dort. Am zweiten Tag sprach mich ein Psychologe darauf an, ob ich nicht Lust hätte zu reiten. Sie hätten in der Klinik festgestellt, dass der Kontakt zu Pferden den meisten Patienten gut tue. Der Psychologe hieß Dr. Barnes. Er sagte: »Wenn ich Sie mir so anschaue, kommt mir die Idee, Sie hätten lange Jahre im Sattel gesessen.« Ich starrte ihn an. Dann bekam ich einen Heulkrampf. Ich weinte und weinte und konnte nicht aufhören. Um es kurz zu machen: Ich habe die ganzen vier Wochen mit wenigen Unterbrechungen geweint.
[126] Die große Trauer
Ich betrauerte meine unheilvolle Liebe zu meinem Großvater. Ich betrauerte meine unglückliche Liebe zu den Pferden. Unterstützt von Dr. Barnes betrauerte ich mein Aufwachsen mit emotional instabilen und teilweise
Weitere Kostenlose Bücher