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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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nicht nur Frauen sondern auch Kinder vergewaltigt. Während meiner Recherchen über deutsche Kriegskinder war ich mehrfach darauf aufmerksam geworden. Über zwei Fälle hatte ich in meinem Kriegskinderbuch geschrieben. Später stellte sich heraus: Es waren noch zwei weitere Frauen, deren Geschichte ich veröffentlicht hatte, als kleine Mädchen vergewaltigt worden. Zu dem Zeitpunkt, als ich sie interviewte, konnten sie darüber nicht reden. Sie stammten beide aus Ostpreußen.
    Nach heutigen Schätzungen gab es in Königsberg und Umgebung nach Kriegsende 5000 verwaiste Kinder, die sich selbst überlassen waren. Die Kräftigsten unter ihnen schlugen sich nach Litauen durch. Dort wurden sie von der Bevölkerung [131] »Wolfskinder« genannt. Die Jüngeren kamen in sogenannte Kinderhäuser, eingerichtet von der sowjetischen Besatzungsmacht. Dort mussten sich alle Heimkinder von russischen Ärzten auf Geschlechtskrankheiten untersuchen lassen. Fünfzig Jahre später lernte ich mit der Hamburgerin Christa Pfeiler-Iwohn eines der damaligen Heimkinder kennen. Sie berichtete: »Wenn wir gefragt wurden, ob Soldaten uns etwas getan hätten, haben wir natürlich nein gesagt. Wir wussten ja nicht, dass man die Wahrheit durch eine medizinische Untersuchung feststellen kann.« 15 Nachdem mein Buch erschienen war, rief mich eine Leserin an und teilte mir mit, sie habe in den ersten Nachkriegsjahren in einem Heim für Flüchtlingskinder in Süddeutschland gearbeitet. Auch dort habe es entsprechende Untersuchungen gegeben. Auf meine Frage, ob sie sich erinnere, wie hoch der Anteil der mit Geschlechtskrankheiten infizierten Kinder gewesen sei, sagte sie: etwa ein Viertel.
    Vergewaltigungen
    Als ich begann, mich für die Kinder der Kriegskinder zu interessieren, fragte ich mich, ob ich auch in der nachfolgenden Generation Spuren von Kriegsvergewaltigungen antreffen würde, und stieß bei meinen Recherchen auf den Fall von Matthias Paulig. Der Schauspieler beschrieb mir das zentrale Trauma seiner Mutter als einen Schatten, der seine eigene persönliche Entwicklung erheblich belastet hatte. Ob er immer noch unter den Auswirkungen leidet, erfahre ich nicht. Inzwischen leben Mutter und Vater nicht mehr.
    Die prägenden Kindheitserfahrungen seiner Eltern sind auf Vaters Seite der Bombenkrieg und auf Mutters Seite die Flucht. Charlotte Paulig* stammt aus Königsberg. Sie war 13 Jahre alt, als sie mit ihrer Familie überstürzt in Richtung Westen aufbrach. Wilhelm Paulig, Anfang der 1930er Jahre geboren, erfüllte als [132] Großstadtkind eine kriegswichtige Aufgabe. Er war Feuermelder – ein freiwilliger Einsatz, wie sein Sohn betont. Dann erklärt er mir, was ich mir darunter vorzustellen habe: Sobald nach einem Luftangriff das Entwarnungssignal kam, rannte Wilhelm auf die Straße, um festzustellen, wo dringend ein Feuerwehreinsatz nötig war und wo ein paar Wassereimer ausreichten, um den Brand zu löschen. Vermutlich bekam Matthias Pauligs Vater als Kind nach schweren Angriffen auch Tote und Leichenteile zu Gesicht. Mir hat einmal ein älterer Mann aus Berlin die blutigen Details seiner Feuermelder-Einsätze als Kind erzählt. Die Erwachsenen hätten damals anerkennend oder entsetzt über ihn gesagt: Dem Jungen fehlt ein Nerv.
    Jahrzehnte später leitete Wilhelm Paulig die Feuerwehr einer westdeutschen Großstadt und baute maßgeblich den Katastrophenschutz aus. Sein Sohn Matthias schildert ihn als jemanden, der auch dann nachts aus dem Bett sprang und zum Einsatzort eilte, wenn seine Anwesenheit dort eigentlich gar nicht erforderlich war. Offenbar handelte es sich um eine berufliche Leidenschaft, die nicht nur der Krieg in ihm geweckt hatte, sondern gleichfalls sein eigener Vater. Der soll, wie ich während unseres Gesprächs erfahre, als hoher Polizeibeamter und ranghoher SS-Mann für die Luftschutzmaßnahmen und die Verpflegung der Bewohner seiner Stadt zuständig gewesen sein.
    Das Interview mit Mattias Paulig kam zustande, nachdem eine Verwandte von ihm den Kontakt zwischen uns hergestellt hatte. Ich bin dankbar für seinen Vertrauensvorschuss. Ähnlich wie in anderen Gesprächen mit Kindern der Kriegskinder sind es recht intime Familienangelegenheiten, die er vor mir ausbreitet. Nicht alles und jedes ist für mich nachvollziehbar. Zum Beispiel, als er sagt, er könne sich bis zu seinem zehnten Lebensjahr praktisch an nichts erinnern, während die Erinnerungen seiner Mutter bis in eine Zeit zurückgereicht haben, als sie zwei Jahre

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