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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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alt war. Etwas Vergleichbares kannte ich bislang nur von einem ehemaligen Kriegskind, das gleichzeitig ein Heimkind [133] gewesen war. Matthias Paulig fügt hinzu, in der Familie sei erzählt worden, sein Vater habe ihn heftig geschlagen, aber auch davon fehle in seinem Gedächtnis jede Spur. Im Zentrum unseres Gesprächs stehen jedoch seine Schwierigkeiten mit der Mutter, wobei er zu Beginn einschränkend darauf hinweist, er könne nicht sagen, ob ihre problematischen Seiten auf ihren Charakter oder auf ihr Kindheitstrauma zurückzuführen seien. Ich hatte erwartet, von konfliktreichen Auseinandersetzungen zwischen beiden zu hören. Aber etwas anderes geschieht: Matthias Paulig verschwindet während unseres Gesprächs mehr und mehr hinter seiner Mutter. Ihre Leidensgeschichte ist so erschlagend, sie nimmt so viel Raum ein, sie saugt soviel Energie auf, dass für ihren Sohn kaum noch etwas übrig bleibt.
    … aber meine Seele war gestorben
    Später, als ich über ihn schreibe, frage ich mich immer wieder, wie es hätte anders sein können. Darf er überhaupt denken, ihm sei ernsthaft etwas angetan worden angesichts dessen, was seine Mutter ertrug und was sie Zeit ihres Lebens nicht mehr los wurde? Charlotte Paulig wurde von einer Gruppe russischer Soldaten vergewaltigt, als sie 13 Jahre alt war. Sie hat das grausame Geschehen nicht als Geheimnis mit sich herumgetragen. Sie war danach nicht lebenslang verstummt. In den achtziger Jahren schrieb sie ein Buch über ihre Kindheit in Königsberg. Darin stehen die Sätze: »Da meine Kehle aber zugehalten wurde, gelangte der Schrei nicht nach außen, aber mein Inneres vibrierte so stark davon, dass ich glaubte, ich müsse zerbersten. Doch ich wurde nicht einmal ohnmächtig. Da beschloss ich, mir selbst zu helfen, und zu sterben.« Die Beschreibung ihrer Vergewaltigung endet mit dem Satz: »Mein Körper lebte, aber meine Seele war gestorben.«
    Während unseres Gesprächs am langen Esszimmertisch [134] nimmt sich Mattias Paulig viel Zeit für die Biografie seiner Mutter: In Königsberg hatte ihre Familie eine Villa bewohnt und Personal beschäftigt. Nach der Flucht besaß man nichts mehr, und der Vater musste sich als Kaufmann im Westen eine völlig neue Existenz aufbauen. Während dieser Phase des Überlebenskampfes, erzählt der Sohn, habe seine Mutter eine offene Tuberkulose gehabt. Geheilt worden sei sie erst drei Jahre später, was bedeutete, sie sei drei Jahre weitgehend von ihrer Familie getrennt gewesen. Nach ihrer Genesung habe sie den dringenden Wunsch geäußert, Deutschland zu verlassen. Wie ihr Sohn weiter berichtet, bot sich ihr durch außergewöhnliche Umstände als junges Mädchen eine Chance in der Schweiz. In Genf fand sie in einer großbürgerlichen Familie Ersatzeltern und damit Geborgenheit. Man fütterte sie mit Wohlwollen und Wärme, mit dem guten Schweizer Essen, mit Theater und Konzerten. Interessante Menschen aus der Kulturszene gingen im Haus ein und aus. Schnell lernte Charlotte französisch. Sie erlebte den für eine Deutsche ihres Jahrgangs unbeschreiblichen Luxus einer unzerstörten Stadt. Sie genoss die Großzügigkeit einer seit Generationen wohlhabenden Familie, die von Kriegen verschont geblieben war. Wie ich den Schilderungen ihres Sohnes entnehme, schöpfte Charlotte hier neuen Lebensmut. Hier erwarb sie auch Bildung, hier schulte sie ihren Intellekt. Unter normalen Lebensumständen hätte sie Abitur gemacht und studiert. Sie glich den Mangel aus, indem sie ihre in Genf geweckten geistigen Interessen später aus eigenem Antrieb weiter entwickelte. Der Kontakt zu der »Schweizer Verwandtschaft« hielt ein Leben lang. Auch er und seine drei Geschwister, erzählt Matthias Paulig, seien in die Genfer Familie aufgenommen worden.
    In den fünfziger Jahren kehrte seine Mutter als junge Frau nach Deutschland zurück und lernte kurz darauf den fast gleichaltrigen Wilhelm Paulig kennen. Sie heirateten. Charlottes Plan stand fest: Sie wollte eine eigene große Familie. Sie wollte für [135] den Zusammenhalt ihrer Verwandtschaft sorgen. Sie wollte nach dem Vorbild der Genfer Familie ein offenes Haus führen. All dies gelang ihr. Sie bekam vier Kinder. Sie lud ihre Geschwister mit deren Familien regelmäßig zum Sonntagsfrühstück ein. Ihr Haus wurde unter den Kunstschaffenden der Stadt eine begehrte Adresse.
    Man dürfe sie nicht als »Mutti-Typ« sehen, sagt ihr Sohn. Sie sei keine zärtliche Mutter gewesen. Es habe ihr nicht gelegen, ihre Kinder

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