Kriegsenkel
liebevoll in den Arm zu nehmen. Ich stelle sie mir als eine lebhafte und originelle Frau vor, die ihre Umgebung inspirierte, aber auch dominierte. Häufig habe seiner Mutter einfach das Maß gefehlt, meint Matthias Paulig. »Sie hat mich noch und noch beschenkt mit Büchern über Preußen, natürlich auch mit dem, was Marion Gräfin Dönhoff schrieb. Daran hat Mutter sich festgehalten. Sie konnte nicht erkennen, dass mein Bezugspunkt ein völlig anderer war.«
Tabu Königsberg
Gleichzeitig vermied sie konkrete persönliche Verbindungslinien zu Ostpreußen. Nie wieder besuchte sie Königberg. Sie hängte auch kein Bild ihrer Heimatstadt auf. »Königsberg war tabu«, stellt ihr Sohn Matthias rückblickend fest. Dennoch kamen bei ihm verschlüsselte und damit verwirrende Botschaften an. »Man kann als Kind und Sohn nicht jede Geste und jedes Gefühl von Seiten der Mutter ›lesen‹. Ich musste mir vieles zusammenreimen. Meine Mutter war nirgendwo zu Hause und sagte von sich, sie sei am liebsten ein schwebender Geist. Das ist für Kinder beängstigend.«
Die Aussagen ihres Sohnes bringen mich zu der Vermutung, sie habe die Familie maßlos überfrachtet. »Wir sind groß geworden mit der Botschaft: Das Wichtigste ist die Familie«, bestätigt Matthias Paulig. »Das Wichtigste ist, dass Geschwister [136] zusammenhalten. Wir wurden als Kinder deshalb bewundert und beneidet. Als Jugendliche hörten wir auch Kritik. Es hieß: Ihr hängt zu sehr zusammen, ihr müsst euch abnabeln. Später waren unsere Ehepartner genervt, weil wir Geschwister untereinander das größere Vertrauensverhältnis hatten.«
Auch hier fällt mir das Motiv der »Burgfamilie« auf. Ich frage mich, wie die Familie da noch ein Kraftzentrum für die Kinder sein konnte. Eine Burg verspricht Schutz. Sie vermittelt: Drinnen sind wir sicher, draußen nicht. Können Burgkinder ausreichend Vertrauen ins Leben entwickeln? Ich möchte der Familie als Burg ein anderes Bild entgegenstellen: die Familie als Hafen. Auch die Hafenlage bietet Schutz, allerdings weniger als eine Burg. Im Hafen weiß man: Wir leben durch den Austausch mit Fremden. Wir sind weltoffen. Wir sind durchaus vorsichtig gegenüber Menschen, die wir nicht einschätzen können. Aber prinzipielles Misstrauen gegenüber Fremden können wir uns als Hafen nicht leisten. Da würden wir keine guten Geschäfte machen. Da würden wir zu wenig von den Segnungen, die außerhalb unseres Hafens gewachsen sind, profitieren. Auf lange Sicht wären wir nicht überlebensfähig. Fazit: lieber weniger Sicherheit, dafür mehr Energie von außen.
Nach meinen Beobachtungen sind Hafenkinder neugierig auf die Welt. Aber auch ihnen macht jeder mit Risiken behaftete Schritt in die Eigenständigkeit Angst. Da brauchen sie ganz besonders den Rückhalt der Familie. Auch dann, wenn Hafenkinder flügge geworden sind, kommen sie vor großen Unternehmungen noch einmal zurück in ihre vertraute Umgebung und holen sich dort Kraft. Sie machen, wie ich es nenne, eine »Hafenrunde«.
Matthias Paulig glaubt, seine Mutter sei wohl immer schon depressiv gewesen – eine Erkrankung, die in seiner Familie mehrfach vorgekommen sei. Demnach könne er auch nicht sagen, ob es sich bei ihren Depressionen um ein Familienerbe gehandelt habe oder um die Folge ihres Kriegstraumas. Zudem, [137] fügt er hinzu, sei seine Mutter mit der Brutalität der Schwarzen Pädagogik erzogen worden; dennoch habe sie ihren Vater vergöttert. An dieser Stelle unseres Gesprächs frage ich ihn, ob sie einmal eine Psychotherapie gemacht habe. Er schüttelt den Kopf. »Sie konnte Psychologen nicht ernst nehmen.«
Eine Mutter, die immer wieder an depressiven Stimmungen leidet, belastet ihre Kinder zwangsläufig. Aber ein anderes Merkmal von Charlotte Paulig ist für ihren Sohn womöglich noch gravierender gewesen: Sie hat alles, was mit Sexualität zusammenhing, verteufelt. »Ihre Sexualität«, sagt er, »war durch die Gruppenvergewaltigung verkrüppelt. Daher sah sie in Sex ausschließlich etwas Negatives. Sex war in ihren Augen primitiv und tierisch. Am besten, man verzichtete darauf.«
Er war 19 Jahre alt und gerade dabei, sein Elternhaus zu verlassen, als er von der Vergewaltigung erfuhr. »Es hat mich massiv verunsichert«, stellt er rückblickend fest. »Ich habe nie eine Frau angemacht. Ich habe immer gewartet, bis sie auf mich zukommt. Am ehesten habe ich mit Frauen geflirtet, die schon vergeben waren.« Er macht eine Pause, denkt nach und fügt dann
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