Kriegsenkel
hinzu: »Was mich behinderte, war meine Angst, als Vergewaltiger zu gelten. Intellektuell konnte ich das grade rücken, emotional aber nicht.«
Punktgenau als Matthias Paulig in seine Eigenständigkeit aufbrach, wurde ihm das Trauma seiner Mutter offenbart. Man könnte es auch anders ausdrücken: Es wurden Anteile ihres Traumas an den Sohn weitergereicht. Ich denke, ein schlechterer Zeitpunkt ist gar nicht denkbar. Auf diese Weise wurde er nicht, wie es sein sollte, gestärkt auf seinen Lebensweg geschickt, sondern extrem geschwächt, vor allem in seiner männlichen Identität. Ich meine: Hier hat sein Vater versagt. Der hätte seinen Sohn schon zu Beginn der Pubertät über die Vergewaltigung aufklären müssen, mit dem Zusatz: »Mutter Ansichten über Sex dürfen für dich nicht zum Maßstab werden. Lust ist etwas Gutes!«
[138] Die Fassade einer intakten Ehe
Was der Sohn über die Ehe seiner Eltern berichtet, überrascht nicht weiter. Sie verstanden sich schlecht, was womöglich nicht nur damit zu tun hatte, dass Charlotte Paulig Sinnlichkeit fern stand und ihr Mann fremdging. Ihr Sohn sagt: »Mutter hat ihre Ehe als gut verkauft, was sie aber nicht war. Sie hat meinen Vater häufig provoziert, vorgeführt und erniedrigt.«
Es ist an der Zeit, noch einige Details zur Person von Vater Wilhelm Paulig bekannt zu geben, der, wie anfangs erwähnt, vom Feuermelder in Kriegszeiten zum Feuerwehrchef in Friedenszeiten aufstieg. Sein eigener Vater – Matthias Großvater – fiel in den letzten Kriegstagen. Sein Rang des SS-Obersturmbannführers entsprach dem eines Obersts. Matthias Paulig, der sich schon während seiner Schulzeit sehr für die NS-Geschichte interessierte, hat später die Rolle seines Großvaters im Nationalsozialismus recherchiert und eine Art Zwangsmitgliedschaft in der SS entdeckt: Heinrich Himmler hatte sich an die Spitze der Polizei gesetzt, mit dem Ziel, sie in der SS aufgehen zu lassen. Diejenigen, die in der Hierarchie weit oben standen, wurden vor die Alternative gestellt, entweder der SS beizutreten oder aus dem Dienst auszuscheiden. Mehr als ein Mitläufer, glaubt Matthias Paulig, könne der Großvater nicht gewesen sein. Sein Name ist in der Nähe von Tätern nicht aufgetaucht.
Gehen wir wieder eine Generation tiefer zu Wilhelm Paulig: Einige Jahre vor seinem Tod, während eines gemeinsamen Urlaubs, erzählte er seinem Sohn Matthias ausführlich, was er während NS-Zeit und im Krieg erlebt hatte und wie seine Familie nach 1945 mit der plötzlichen Verarmung fertig geworden war. Dem Sohn wurde versichert, sein Großvater sei kein Antisemit gewesen. Grundsätzlich, meint Matthias Paulig, gebe es über das Verhältnis zu seinem Vater nicht viel zu sagen. Die Beziehung zu ihm sei sehr viel einfacher als zur Mutter gewesen, erfahre ich. Der Vater wird geschildert als ein Patriarch, [139] der seiner Familie, vor allem wohl auch seiner Frau, Halt gegeben hat.
Männer, die vaterlos aufwachsen, haben häufig als Erwachsene eine besonders enge Bindung zur Mutter. Bei Wilhelm Paulig, dem Vater von Matthias, war das Gegenteil der Fall. Wenn möglich mied er jeden Kontakt mit seiner Mutter, obwohl sie in derselben Stadt wohnte. Seine Frau Charlotte, für die der Zusammenhalt der Familie den höchsten Wert darstellte, setzte alles daran, damit er die alte Dame wenigstens am Muttertag besuchte. Mattias Paulig kennt nicht den Grund der schlechten Beziehung. Er meint nur, etwas müsse vorgefallen sein, als sein Vater 16 Jahre alt gewesen sei. Bis dahin sei er das Lieblingskind gewesen, auch deshalb, weil er groß war und »arisch aussah«. Offenbar hatten sich bei Matthias’ Großmutter gewisse Werte des Nationalsozialismus erhalten. Sie verlor kein Wort über ihre Erlebnisse während der NS-Herrschaft, betonte aber bis zu ihrem Lebensende, es sei ihre beste Zeit gewesen.
Todesursache unbekannt
Es lässt sich nicht mehr klären, ob Wilhelm Pauligs Unversöhnlichkeit seiner Mutter gegenüber mit deren NS-Vergangenheit oder der seines Vaters zusammenhing, oder ob völlig andere Hintergründe eine Rolle spielten. Von seinem Sohn erfuhr ich: Der Vater las fast ausschließlich Bücher über die NS-Zeit. Ich vermute, er litt, wie so viele Kriegskinder, unter Schuldgefühlen, geerbt von der Generation der Eltern, die sich damit nicht hatte auseinandersetzen wollen. Wilhelm Paulig trug mehr als ein Geheimnis mit sich herum. Das letzte Geheimnis ist seine Todesursache. Sohn Matthias erzählt mir, sein Vater sei
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