Kriegsenkel
mit 60 Jahren gestorben, man wisse aber nicht woran. Selten hat mich etwas mehr überrascht. Ich frage, wie das möglich sei – schließlich habe ein Arzt den Totenschein ausfüllen müssen und darauf [140] sei doch die Todesursache vermerkt, und wenn diese unbekannt sei, werde die Kriminalpolizei eingeschaltet. … Paulig zuckt die Achseln und wiederholt, er wisse nicht, woran sein Vater gestorben sei. Der Tod sei auch nicht plötzlich eingetreten, sondern nachdem er 14 Tage krank im Bett gelegen habe.
Charlotte Paulig verkraftete den Tod ihres Mannes nicht. »Danach wurde es ganz schlimm mit ihren Depressionen«, berichtet der Sohn. Im Laufe der Jahre entwickelte sich die Verfassung der Mutter für ihre Kinder zum Dauerproblem. Nachdem ein Schlaganfall sie auch körperlich eingeschränkt hatte, begann ein langer Leidensweg – nicht nur für sie, sondern auch für ihre Kinder. Nun war ihr Hunger nach Aufmerksamkeit und Zuwendung nicht mehr zu stillen. Sie hatte wohl gehofft, eines ihrer Kinder würde sie, wenn sie einmal alt und hilflos sei, zu sich nehmen. Aber das geschah nicht. Ihr Charakter veränderte sich. »Sie begann, uns Geschwister gegeneinander auszuspielen. Sie verbreitete Gift unter uns, indem sie hinter dem Rücken jedes einzelnen schlecht über ihn redete«, erläutert Matthias Paulig. »Während ihrer letzten Lebensjahre, in der Schlussphase, war es einfach nur grauenhaft. Sie hielt uns Kinder im Alarmzustand. Manchmal war sie plötzlich verschwunden. – Jedenfalls ist man gedanklich ständig mit ihr befasst. Man fühlt sich oft schuldig. Man hat ein schlechtes Gewissen. Man hat große Wut. Man sagt sich immer wieder: Mutter ist völlig verstört – aber die Klemme bleibt. Das hat mich fast wahnsinnig gemacht.«
Die geschwisterliche Eintracht existiert heute nicht mehr. Als nach Mutters Schlaganfall Entscheidungen zur Pflege anstanden, gab es zum ersten Mal Streit unter den Kindern von Charlotte Paulig. Zu seinem jüngsten Bruder, sagt Matthias, sei das Verhältnis heute ganz schlecht. Man rede nicht mehr miteinander. Der Bruder sei der Auffassung, er allein habe sich ausreichend um die Mutter gekümmert, während die anderen Geschwister sich gedrückt hätten. Es habe auch Streit um Geld [141] gegeben, das die Mutter ihm angeblich versprochen habe. »Heute meint mein Bruder, er sei Zeit seines Lebens in jeder Beziehung zu kurz gekommen. Da stehe ihm wenigstens ein finanzieller Ausgleich zu.«
Familie auf dem Prüfstand
Wenn existentielle Entscheidungen hinsichtlich der pflegedürftigen Eltern zu treffen sind, steht die Qualität einer Familie auf dem Prüfstand. Hier zeigt sich, ob sie schweren Belastungen standhält oder auseinander bricht. Wenn im Alter ein Elternteil zum Pflegefall wird, sind Auseinandersetzungen unter Angehörigen die Regel und nicht die Ausnahme – und das kann auch nicht anders sein. Da sieht sich eine Gruppe von Menschen mit völlig neuen Fragestellungen konfrontiert. Sie muss in Zeiten hoher emotionaler Belastungen mit kühlem Kopf Einigkeit darüber erzielen, was für Mutter oder Vater das Beste ist. In vielen Fällen gibt es keine eindeutig gute Lösung, was die Situation nicht leichter macht. Wie immer am Ende der Beschluss ausfällt: Es bleibt ein Rest Ungewissheit, ob man nicht doch die falsche Entscheidung getroffen hat. Das bietet reichlich Stoff für gegenseitige Beschuldigungen. Nun gibt es Familien, in denen man sich der Überforderung bewusst ist, weshalb man sich darauf einigt, die anfallenden Entscheidungen einem Einzelnen aus der Geschwistergruppe zu übertragen. Oder man streitet eben so lange, bis sich in der Tat ein Konsens einstellt. Das setzt aber voraus, dass man im Laufe seines Lebens das Miteinander-Streiten gelernt hat. Bei den Pauligs war das nicht geschehen.
Eltern, die in frühen Jahren der Gewalt des Krieges ausgesetzt waren, tragen in sich einen Schwur: Nie wieder Krieg! Die Frage ist nun: Was geben sie davon ihren Kindern weiter? »Nie wieder Krieg« oder vielleicht auch »Frieden um jeden Preis«? Mag sein, Matthias Paulig und seine Geschwister hielten deshalb [142] als Kinder wie Pech und Schwefel zusammen, weil sie spürten, ein nicht immer friedlicher Umgang miteinander hätte die Mutter allzu sehr in Unruhe versetzt. In diesem Fall hätte es sich um Konfliktvermeidung aus Rücksichtnahme gehandelt. Mag aber auch sein, dass sich die Geschwister mit ihrem Schulterschluss gegenseitig stützten, weil ihnen ihre psychisch labile Mutter
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