Kriegsenkel
nicht genügend Halt geben konnte. Wie auch immer: Den Paulig-Kindern war nicht beigebracht worden, dass heftige Auseinandersetzungen unter Geschwistern etwas Normales sind, und was zu tun ist, um einen Konflikt zu beenden. Charlotte Paulig hinterließ keine starke, sondern eine instabile Familie. Nicht die Familie selbst gab lange Zeit Halt, sondern die Ideologie einer Familie.
Noch immer dominiert die Mutter – auch in dieser Geschichte, auch auf diesen Seiten. Der Sohn verblasst hinter ihr. Sie allein scheint das Opfer zu sein. Selbst die Traumata ihres Mannes fallen wenig ins Gewicht. Keine Frage, die Mutter trug schwerste seelische Verletzungen in sich und glaubte nicht, dass irgendjemand ihr helfen könne. Man möchte weinen, wenn man sich ihr Schicksal im Detail vor Augen führt. Aber auch ihr Sohn hat ein schweres Schicksal. Nur erkennt man es nicht, solange sich die Mutter immer wieder davor schiebt. Was könnte in Friedenszeiten an das Leid von Kriegskindern heranreichen? Das ist das Dilemma, das ist die Tragik vieler Kinder der Kriegskinder.
[143] Achtes Kapitel
DER WEHRLOSE
[145] Ein vielseitiger Autor
Auf Jürgen Petersen* war ich durch eines seiner Hörspiele aufmerksam geworden. Darin hatte er scharfsinnig und mit untergründigem Witz die deutsche Gegenwart mit den Schatten der deutschen Vergangenheit verknüpft. Das Stück spielte im Milieu der »Grünen Damen«, jenen ehrenamtlichen Helferinnen, die sich im Rahmen von Besuchsdiensten um Krankenhaus-Patienten kümmern. Die Protagonistin war eine 70-Jährige, die ich unschwer als typisches Kriegskind erkannte. Nahezu alles, was sie von sich gab, hatte direkt oder indirekt mit dem Thema Essen zu tun: Kochen, Lebensmittelpreise, Herdplattenpflege, getrennte Küchenabfälle, Grillfleisch, Verdauung, Haltbarkeitsdaten. Wie ich später Petersens Homepage entnahm, war er ein vielseitiger Autor von beeindruckender Produktivität. Davon zeugte die lange Liste mit Theaterstücken, Büchern, Hörspielen, Essays, Liedertexten. Ich stellte mir einen Mann vor, der mir lebhaft und souverän aus seinem Leben erzählen würde. Der Mann, der mir dann gegenüber saß, grau in grau gekleidet, wirkte erschöpft und niedergeschlagen. Ich erfuhr, seine Ehe sei gerade auseinander gebrochen.
Während unserer Begegnung schaute er häufig auf die Uhr, weil er in regelmäßigen Abständen Tabletten einnehmen musste. Er hat die Diagnose Parkinson, eine fortschreitende Krankheit mit einer grausamen Endphase, jedenfalls nach heutigem Erkenntnisstand. Petersen ist 40 Jahre alt. Er hofft auf einen entscheidenden Durchbruch in der Medizin.
Nachdem ich unser Gespräch abgehört und aufgeschrieben hatte, folgte eine längere Phase der Ratlosigkeit. Es ist ja auch alles andere als leicht, einen Menschen einzuschätzen, der gerade in einer Lebenskrise steckt und an einer Krankheit leidet, [146] die eine düstere Zukunft in Aussicht stellt. Schon während unseres Gesprächs hatte ich ihm einen Namen gegeben: »der Wehrlose«. Auch bei anderen Kriegsenkeln war mir aufgefallen, wie schwer sie sich damit taten, sich vor Menschen und Situationen zu schützen, die ihnen schaden. Bei Jürgen Petersen schien ein seelischer Immunschutz gänzlich zu fehlen.
Er ist feinfühlig und klug, Man wünscht ihm, dass sich sein Talent des Schreibens schneller herumspricht. Er hat mehr Anerkennung verdient, als er momentan bekommt. Sein geringes Einkommen macht ihn manchmal nervös. Aber grundsätzlich schaut er eher auf das halbvolle als auf das halbleere Glas. Er bekommt Geld für das, was er am liebsten tut – genug, um davon zu leben. Nur wenige Schriftsteller kommen so weit. Würde er sich in seiner Arbeit dem Zeitgeschmack anpassen, könnte er sich vermutlich einen Mittelklassewagen leisten. Aber derartige Spekulationen sind müßig. Petersen kann sich überhaupt nicht anpassen. »Eines meiner höchsten Prinzipien war immer Aufrichtigkeit«, sagt er. »Mein Ziel für mein Leben war: mich morgens im Spiegel betrachten, ohne brechen zu müssen.« Erst dachte ich, er hätte im Eifer des Gesprächs ein bisschen zu dick aufgetragen, aber dann fiel mir ein, wie punktgenau er als Autor mit Sprache umzugehen weiß, und dass ich daher seine Worte ernst nehmen sollte.
Misstrauen und Missgunst
Ich habe anfangs nicht begriffen, woher seine Rigorosität kommt. Wovon grenzt er sich ab? Schließlich entstammt er nicht einem Gangstermilieu, wo niemand die Wahrheit sagt und jeder den anderen übers Ohr haut.
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