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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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In seinem Elternhaus herrschte keine scheinheilige, bigotte Atmosphäre. Allerdings wuchs er im Gezänk einer kleinbürgerlichen Familie auf, in der – neben erfreulichen Eigenschaften und Werten – bis heute Misstrauen und [147] Missgunst unübersehbar sind. In einem solchen Klima, stelle ich mir vor, gibt es keine allzu große Hemmung, die Wahrheit zurechtzubiegen, bis sie passt. Dass Jürgen Petersen sich auf dieses Niveau nicht herunterziehen lassen will, leuchtet also ein. Aber dann kommt von ihm wieder so ein Satz, der mich irritiert: »Alle erwarten, dass ich mich strategisch verhalte, doch das mache ich nicht.« Ja, warum denn nicht? Hat man nicht erheblich mehr Handlungsspielraum, wenn man sich in Konflikten taktisch verhält: auf Zeit spielen, dem Gegner den Wind aus den Segeln nehmen, kleine Zugeständnisse machen, auf Argumente verzichten, die die eigenen Position schwächen?
    Aber ich bin nicht auf der richtigen Spur. »Strategisches Verhalten«, erläutert Petersen mir, »bedeutet für mich, mich so zu verhalten, wie andere es von mir erwarten – das bedeutet: mich anpassen. Bei Streitigkeiten mit meiner Mutter, meiner Schwester und meiner Frau kommt es immer wieder zum gleichen Punkt. Sie sagen: Du musst dich ändern. Solange du dich nicht änderst …« Und er fügt hinzu: »Ich will nicht daraus bestehen, es allen recht zu machen. Ich will angenommen werden, wie ich bin. Wenn das geschähe, wäre ich auch bereit, mir etwas über meine Fehler sagen zu lassen.«
    Was Jürgen Petersen verlangt, ist nichts Besonderes, sondern einfach nur die Basis eines respektvollen Umgangs. Mag sein, dass er in der engeren Verwandtschaft von Menschen umgeben ist, die davon keine Ahnung haben. Hier wäre wohl an erster Stelle die Rolle seiner Mutter zu untersuchen. Der Sohn bezeichnet sie als ein typisches Kriegskind. Geboren 1934 und in Wilhelmshaven aufgewachsen, erlebte sie während des ganzen Kriegs Luftangriffe – ausgenommen nur ein Jahr, das sie bei Verwandten auf dem Land verbrachte. Ihre Heimatstadt wurde, weil sie Kriegshafen war, von 1940 bis 1945 bombardiert. Ich las einmal einen Zeitungsartikel, dessen Verfasser meinte, man hätte solche Städte, deren Zerstörung mehr oder weniger flächendeckend war, nach 1945 nicht wieder aufbauen sollen, [148] sondern stattdessen mit einem großen Zaun umgeben sollen, darauf Schilder mit der Aufschrift: »So ist Krieg!«
    Über die Kindheit der Mutter wusste Jürgen Petersen lange Zeit nur dies: Alles war schrecklich gewesen, vor allem die Schmerzen, die ihr während des Krieges zugefügt worden waren. Als Kind sah er es als seine Aufgabe an, sie trösten. Nur eine beruhigte Mutter ist eine halbwegs stabile Mutter. Kleine Kinder empfinden so. Sie können gar nicht anders. Auf Grund ihrer beispiellosen Verletzlichkeit besitzen kleine Kinder ihre eigene Logik: Wenn ich nicht dafür sorge, dass es Mama gut geht, kann sie nicht mehr für mich kochen und dann muss ich sterben.
    »Ich habe schon früh empfunden, das ist ein Abgrund für mich«, erzählt Jürgen Petersen. »Gerade heute Nacht hatte ich einen Traum: Ich hatte ein Kristall gefunden, ein Mineral, sehr schön, und mein erster Gedanke im Traum war: Den musst du deiner Mutter schenken, das tröstet sie. Und ich habe mich im Traum über diesen Gedanken geärgert! Als kleines Kind habe ich meine Spielsachen danach ausgesucht, was meiner Mutter gefallen könnte. Das ist mir lange überhaupt nicht klar gewesen.«
    Johanna Petersen*, eine Hausfrau ohne Berufsausbildung, versorgte ihre Familie und gängelte sie. Vor allem manipulierte sie sie durch ihre Krankheiten. Die waren nicht eingebildet, aber doch maßlos übertrieben dargestellt, wie ihr Sohn mir erläutert. »Meine Mutter hat sich stets über Krankheiten definiert«, betont er. »Von den Tabletten konnte sie nie genug bekommen. In der Verwandtschaft war das genauso. Oma hat ständig aufgezählt, wie viele Tabletten sie nehmen muss. Je schlimmer ein Medikament in seinen Nebenwirkungen, desto wichtiger fühlte man sich. Man zeigte die Behindertenausweise herum, als handele es sich um Auszeichnungen.« Johanna Petersen hatte auch immer wieder depressive Phasen. Als Jürgen etwa zwölf Jahre alt war, drohte sie häufiger damit, sich umzubringen. Als er 25 Jahre alt war, verkündete sie, sie habe nicht [149] mehr lange zu leben. »Ich hab das ernsthaft alles geglaubt. Und nun? Sie ist immer noch putzmunter«, empört sich ihr Sohn. »Meine Mutter hat nie einfach

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