Kriegsenkel
hält.« Man begreift, warum sie, die sozial derart eingeschränkt war, den Schritt in die Selbständigkeit erst gar nicht erwog. Wenn sie heute Fenster entwirft, dann nur noch für Bekannte oder für sich selbst und ihre inzwischen sechsjährige Tochter Judith – zum Beispiel das Küchenfenster, unter dem wir sitzen. Dessen Rahmen ist komplett ausgefüllt mit einem Sonnenmotiv. »Als mein Kind drei war, hat es mal gefragt, warum von der Küche aus die Sonne nicht zu sehen ist. Na ja, hinter dem Fenster ist nur der Lichtschacht. Da habe ich Judith eine Sonne gemacht.«
[180] Was läuft bei ihr schief?
Katharina von Thalheim hat eine Ausbildung. Sie hat Begabung. Sie sieht gut aus, sie gewinnt auf Anhieb Sympathien. Sie ist eine wunderbare Mutter. Was läuft bei ihr schief? Warum tritt sie auf der Stelle? Ihre Antwort: »Weil ich, seit ich denken kann, völlig verunsichert durchs Leben laufe.« Üblicherweise, fügt sie hinzu, sei sie nicht gerade mitteilsam, wenn es um ihre Defizite gehe. Sie habe die Erfahrung gemacht, es werde ihr nicht geglaubt. Offenbar ist die Diskrepanz zwischen ihrer lebensbejahenden Ausstrahlung und ihrem inneren Verzagtsein zu groß. Niemand in ihrer Familie und kaum jemand in ihrem Freundeskreis versteht, warum sie immer noch arbeitslos ist. Spätestens seit ihre Tochter den Kindergarten besucht, wird ihr ringsum signalisiert: Arbeit wäre das Beste für dich – dann kämst du mal wieder unter Leute. Katharina sieht das genauso, und sie hat auch keine großen Ansprüche. Sie weiß: Spezialisten im Glashandwerk werden nicht gebraucht, und ihre vielen Jahre der Beschäftigungslosigkeit sind alles andere als eine Referenz. Realistisch betrachtet käme erstmal nur ein Job im Billiglohnsektor in Frage. »Meine Freundinnen meinen es alle gut mit mir, wenn sie mir Tipps geben, wo ich mich bewerben soll«, erzählt sie. »Aber sie haben keine Ahnung, wie ich mich jedes Mal mit einem Bewerbungsschreiben herumquäle, auch dann, wenn es um eine Arbeit geht, deren Lohn Hartz IV kaum übersteigt.« Wieder ist es ihre Angst, in Panik zu geraten, die sie blockiert. Jemand wie sie darf sich nicht den kleinsten Fehler erlauben.
Da stellt sich die Frage: Wer ist sie? Eine Antwort darauf fällt Katharina von Thalheim schwer, trotz ihres Hangs zur Selbsterforschung und reichlicher Therapieerfahrung. Ihre Identität setzt sich, wie bei jedem Menschen, aus verschiedenen Rollen und Prägungen zusammen. Aber bei ihr fügt sich daraus kein Ganzes, es existiert viel Widersprüchliches, auch Unverknüpftes. Sie hat die längste Zeit ihres Lebens in Berlin gelebt, doch [181] ihre Sprache und ihr Verhalten drücken davon nichts aus. Von Berliner Schnodderigkeit keine Spur. Kein »ick« und kein »wa« mischen sich in ihre Sätze. Katharina ist eine Hochdeutsche der reinsten Art. Wenn sie länger von sich spricht, tritt ihre Unsicherheit zu Tage. Oft unterbricht sie sich selbst, nimmt einen neuen Gedanken auf, führt auch diesen nicht unbedingt zu Ende. Sie lacht viel, vor allem dann, wenn sie von Dingen redet, die eigentlich zum Weinen sind. Es kommen ihr aber auch häufig die Tränen – für mich jedes Mal überraschend.
Sie ist Mutter, das ist sie von Herzen gern. Aber ist sie auch gern eine Frau? Ihr Alleinleben seit zehn Jahren, und das im sogenannten besten Alter, lässt vermuten, dass sie in dieser Frage zumindest zwiespältige Gefühle hat. Darüber hinaus ist Katharina Tochter – ihr Vater wohnt nur drei Häuser entfernt –, aber ist sie gern Tochter? Ja und nein. Mehr sagt sie dazu erstmal nicht. Sie meint, sie wolle mir zur Einstimmung ein Video zeigen. Was ich zu sehen bekomme, ist eine fast 40 Jahre alte Fernsehreportage über Katharina und andere Kinder im Vorschulalter. Es geht um das Experiment Kinderladen. Auch ihre Eltern, damals Aktivisten in der Berliner Kinderladenszene, kommen ausführlich zu Wort.
Kinder, die alles dürfen
Meine Gesprächspartnerin war vier Jahre alt, als der Film gedreht wurde. Sie kann sich speziell an dieses Ereignis nicht erinnern. Es kamen damals häufig Leute vom Fernsehen, weil ihr Vater gute Kontakte zu Sendern hatte. Der Kinderladen war zwei Jahre zuvor von ihren Eltern, Ulrike und Alf von Thalheim*, zusammen mit anderen Gleichgesinnten eröffnet worden und galt, da er einer der ersten in Berlin war, als pädagogische Sensation. Das Interesse war groß, auch bei der überregionalen Presse. Die Einrichtung für »Kinder, die alles dürfen« – so der Titel
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