Kriegsenkel
Ostpreußen, und beide waren sie in adligen, kinderreichen Familien aufgewachsen. Ihre Eltern waren befreundet gewesen. Die Kindheiten von Alf und Ulrike wiesen eine Reihe von Parallelen auf: das sorgenfreie Aufwachsen auf einem Gut. Dann, von heute auf morgen, der Verlust der vertrauten Umgebung. Die plötzliche Armut. Auch eine lange Trennung von den Eltern gehörte dazu. In beiden Familien wurden die Kinder nach der Flucht in den Westen auf Verwandte verteilt. Es hatte geheißen, sie würden dort wie eigene Kinder behandelt. Stattdessen ließ man sie spüren, dass einer Hunger leidenden Verwandtschaft ein Makel anhaftet. Erwartet wurden Dankbarkeit, Gehorsam und gute Schulnoten. Mit zehn Jahren kam Alf in ein Jungen- und Ulrike in ein Mädcheninternat. Katharina [187] erinnert sich, ihre Mutter habe die Schule einmal als »Kinderknast« bezeichnet.
Als Katharinas Eltern Anfang der sechziger Jahre heirateten, studierten sie noch, und sie wählten die CDU. Dann wurden Westberlins Studenten unruhig und auch Alf und Ulrike von Thalheim ließen sich anstecken. An der Universität standen die Zeichen auf Sturm, und nach dem Tod von Benno Ohnesorg sah es in vielen Großstädten der Bundesrepublik ähnlich aus. Alf und Ulrike wurden in ihren Herkunftsfamilien als »Kommunisten« bezeichnet. Das war das Etikett, das man ihnen wegen ihrer aufmüpfigen Ideen anheftete. Plötzlich war das adlige Blut nicht mehr dicker als Wasser. Plötzlich hieß es: Wer sich so benimmt, gehört nicht mehr dazu. Alfs Vater, ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier, der die Männer des 20. Julis 1944 noch ein Vierteljahrhundert später »Verräter« nannte, verhielt sich am konsequentesten. Er war zu einem erfolgreichen Manager in der Pharmaindustrie aufgestiegen. Warum, fragte sich Alfs Vater, solle er so dumm sein, seinen Sohn, der ihn als »Klassenfeind« ansah, dafür auch noch finanziell zu belohnen? Also wurde der Sohn enterbt. Die Kontakte von Alf und Ulrike zu ihren Eltern blieben dünn, zeitweise waren sie völlig abgebrochen.
Es wäre für Katharina interessant zu erfahren, ob ihr Vater sich wegen der politischen Gesinnung seines Vaters schämte, und wenn ja, welche Konsequenzen es für ihn hatte. »Jeder will doch auf seine Eltern stolz sein, oder? Ich frage mich, wo der Vater das hin gesteckt hat.« Aber Alf von Thalheim mag es nicht, wenn er das Gefühl hat, jemand wolle sein Innenleben ausforschen. Da weicht er aus, da wird er in seinen Antworten vage. Falls seine Tochter dann noch weiter bohrt, kann er regelrecht aus der Haut fahren. »Das war schon früher so«, erzählt Katharina. »Unsere Eltern hatten den hohen Anspruch: Wir reden über alles! Aber wenn man den Vater ganz direkt etwas Persönliches fragte, ging er in die Luft.«
Sich als Vater von seinen eigenen Kindern in Frage stellen zu [188] lassen, muss für Alf von Thalheim etwas Bedrohliches gehabt haben. Wie seine Tochter ihn schildert, konnte er darauf nicht souverän reagieren, denn er war in patriarchalischen Verhältnissen groß geworden. Man hatte ihm Werte eingetrichtert, die noch aus der Kaiserzeit stammten. Wenn er sich durch seine Kinder provoziert fühlte, reagierte er mit Reflexen, die sich ihm in seiner Kindheit tief eingebrannt hatten.
Die neuen Normen der WG
Wie viele junge Menschen, die sich von der 68er-Bewegung angesprochen fühlten, waren auch Ulrike und Alf von Thalheim nicht nur real als Kinder entwurzelt worden – als junge Erwachsene sahen sie sich plötzlich auch ohne soziale Heimat, denn das Elternhaus war ihnen fremd geworden. Also taten sie sich mit anderen Entwurzelten gleichen Alters zusammen. Man lebte in Wohngemeinschaften, verabredete sich zu Demonstrationen, man las die Schriften von Karl Marx oder ließ es bleiben, man diskutierte lange Nächte, wie es gesellschaftlich weitergehen sollte. Traditionen und Konventionen hatten ausgedient. Man gab sich zur Begrüßung nicht mehr die Hand. Kleine Mädchen mussten keinen Knicks mehr machen. Auch nützliche Höflichkeiten wurden ersatzlos gestrichen: Wer neu in einen Kreis kam, durfte nicht mehr darauf hoffen, von Kumpeln, die schon dazugehörten, den anderen vorgestellt zu werden. Manchmal gingen ein Mann und eine Frau kurz entschlossen miteinander ins Bett und nannten sich erst am nächsten Morgen ihre Vornamen. Aber von dieser Sorte waren Katharinas Eltern nicht. Überhaupt muss man sich die unruhige Jugend von 1968 als kunterbunte Mischung vorstellen, die dem später in
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