Kriegsenkel
in jedem Fall aber weiß. Zeigen die Großväter heute ihren Enkeln Gruppenfotos von Anno 68, müssen sie dazu sagen, wer sie sind. Woher sollen die im 21. Jahrhundert Geborenen auf die Idee kommen, dass ihr bürgerlicher Opa einmal wie ein wilder Mann aussah, mit wirrem, langen Haar, in schlampiger Kleidung? Sind sie bereits im jugendlichen Alter, dann fangen sie an zu begreifen: Ihre Großeltern erlebten als Studenten eine überaus spannende Zeit, in der vieles geschah, worüber man heute die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde. Die Enkel wollen mehr darüber wissen, oder sie wollen über Fernsehbeiträge mit ihnen diskutieren. Die Alten sollen erklären, warum sie damals massenhaft auf die Straße gingen, was ihnen die Sit-ins an den Unis brachten und was ihre sonderbare Sprache auf den Flugblättern sollte, die kein normaler Mensch verstand. Erst ganz allmählich fügt sich für die Nachkommen ein Bild zusammen, das zwar unscharf ist, aber doch eine gewisse Authentizität vermittelt.
[178] Ungereimtheiten
APO-Tochter Katharina von Thalheim* schlägt sich noch immer mit Ungereimtheiten herum. Sie kam 1967 in Berlin zu Welt. Dort gehörte sie zu den ersten ›Kinderladenkindern‹. Noch heute hält sie Kontakt zu Gleichaltrigen, die mit ihr das Chaos ihrer frühen Erziehung teilten. Katharina von Thalheim hat einen energischen Gang, ein schönes Gesicht und schulterlange dunkle Locken. Doch am auffälligsten ist ihr herzliches, strahlendes Lächeln. Auf den ersten Blick wirkt sie offen und selbstbewusst – eine dieser emanzipierten Frauen auf dem Höhepunkt ihrer Attraktivität. Wer sie näher kennen lernt und ihr Vertrauen gewinnt, erlebt, wie sehr ihre Ausstrahlung täuscht. In Wahrheit, verrät sie mir, gerate sie schnell in Panik, vor allem gegenüber Autoritätspersonen. Das müssten nicht uniformierte Polizisten sein, fügt sie hinzu. Auch von der Sachbearbeiterin, die sie immer wieder wegen der Hartz IV-Unterstützung kontaktieren müsse, lasse sie sich leicht einschüchtern.
Wir hatten uns vor Jahren während einer Zugfahrt kennen gelernt und ein paar Worte miteinander gewechselt. Ihr Gesicht – das unvergleichliche Strahlen! – kam mir irgendwie bekannt vor, und es stellte sich heraus, dass sie in Berlin im selben Haus wohnte wie eine Freundin von mir. Dort lief sie mir noch einige Male über den Weg. Ich erlebte sie hochschwanger und dann erst wieder mit ihrem zweijährigen Töchterchen an der Hand. Von meiner Freundin erfuhr ich, Katharina von Thalheim sei eine allein erziehende Mutter und der Vater von Judith lebe weit entfernt in Österreich. Katharina hatte ihn nur flüchtig gekannt, als sie schwanger wurde. Sie wurden auch später kein Paar, sie halten Kontakt, weil sie gemeinsam eine Tochter haben. Weiteren Hinweisen meiner Freundin entnahm ich, Katharina habe eine Glasfachschule besucht, eine Ausbildung zwischen Handwerk und Kunstgewerbe. Mit etwas Glück hätte daraus eine befriedigende Berufstätigkeit werden können, aber [179] Katharina hat kein Glück in diesen Dingen. Sporadisch arbeitete sie in kleinen Fachbetrieben, die sie nach wenigen Monaten oder gar nur Wochen wieder verließ. Den Hintergrund enthüllte sie mir, als ich sie in Berlin besuchte.
Ich hatte mich an Katharina von Thalheim erinnert, als ich mich entschloss, in diesem Buch auch ehemalige Kinderladenkinder vorzustellen. »Ich bin aber nicht typisch«, eröffnet sie unser Gespräch, als wir bei Tee in ihrer Altbauküche sitzen. »Ich bin jetzt noch mal alle durchgegangen, die mit mir im Kinderladen waren. Aus allen ist etwas geworden. In den Kämpfen, die sie heute noch führen, geht es um ihre komplizierten Liebesziehungen. Aber beruflich sind die meisten auf einem guten Weg.« Bei Katharina ist das Gegenteil der Fall. Der Grund: »Ich habe, wie schon gesagt, eine Autoritätsphobie.« Die äußert sich vor allem darin, dass sie Kritik von Vorgesetzten nicht aushalten kann. Ihre Angst, etwas falsch zu machen, war und ist ihr größtes Hindernis.
Sie lebt mit einer Bedrohung, die sich ihr – sie weiß nicht wann und wodurch – eingebrannt hat, und diese Bedrohung lautet so: Wenn ich, Katharina, nicht von vornherein perfekt bin, dann ist alles aus. Daher besitzt sie kaum Spielraum, um zu lernen, bzw. etwas Neues auszuprobieren. »Wenn ein Chef sauer sagte: ›Was haben Sie denn da gemacht? Das ist falsch!‹, dann kriegte ich sofort Panik. Dann wusste ich plötzlich nicht mehr, wie man den Glasschneider richtig
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