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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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eines Zeitungsartikels [182] – löste Beifall und Abscheu aus, vor allem aber Ratlosigkeit. Die Springer-Presse tat nichts, um ihr Entsetzen zu verhehlen. Aber es gab auch durchaus wohlwollende Beiträge. Liest man sie heute, fällt auf: Es fehlte den Autoren damals schlichtweg an Kriterien. Doch wie sollte es auch anders sein? Den Wohlwollenden war klar, dass der bis dahin übliche strenge Erziehungsstil vor allem eingeschüchterte, auf Gehorsam fixierte Bürger hervorgebracht hatte. Nun aber brauchte das Land Demokraten. Was also tun? Inzwischen war mit dem englischen Schulexperiment »Summerhill« eine neue pädagogische Gedankenwelle auf dem Kontinent angelangt. Es waren nur kleine Gruppen, die sich in Westdeutschland und vor allem Westberlin in der Kinderladenbewegung engagierten, aber sie hatten langfristig im Negativen wie im Positiven eine enorme Wirkung.
    Der 30-minütige Fernsehbeitrag über Katharinas Kinderladen, den wir uns gemeinsam anschauen, ist als historisches Dokument hochinteressant. Er beginnt, wie nicht anders zu erwarten, mit der Außenansicht eines ehemaligen Ladenlokals. Durch das Schaufenster sieht man tobende Kinder auf Matratzen. Katharina, damals eine Vierjährige, hockt etwas abseits und schaut zu. Sie gehört, wie sich im Laufe des Beitrags zeigen wird, zu der Fraktion der Ruhigen, eine Minderheit. Dann sucht der Reporter die Innenräume auf und sucht gleichzeitig nach Worten, um ein unbeschreibliches Durcheinander zu beschreiben. Er findet sie nicht, was aber auch nicht schlimm ist, denn die Bilder sagen alles. Es sieht aus wie in einem riesigen, unaufgeräumten Kinderzimmer. Die Generation meiner Eltern – in etwa die Generation von Katharinas Großeltern – hätte dazu gesagt: »Es sieht aus wie im Schweinestall«, was in diesem Fall nicht stimmt, denn im Schweinestall ist es dreckig. In den Kinderläden dagegen legte man, soweit ich mich aus meiner Zeit als junge Zeitungsredakteurin erinnere, mehr Wert auf Hygiene als in so mancher Wohngemeinschaft.
    »Wenn Leute vom Fernsehen angekündigt wurden«, erinnert [183] sich Katharina, »habe ich mich immer gefreut. Denn die wollten uns nicht nur beim Toben drehen, sondern auch bei einem angeleiteten Spiel. Dann hieß es bei uns im Kinderladen zur Abwechslung mal nicht: Jedes Kind macht, wozu es gerade Lust hat. Sondern: »Heute spielen wir mal alle zusammen ein richtiges Spiel.« Offenbar sollte den Fernsehzuschauern vermittelt werden, es handele sich hier um ganz normale Kinder, die nicht nur Chaos machten, sondern sich auch auf Gemeinsames konzentrieren konnten. Es sollte deutlich gemacht werden: Hier werden den Kinder pädagogisch fundierte Spiele und Werte beigebracht.
    Die Kamera zeigt die kleine Katharina in zwei Szenen: wie sie streitende Parteien beschwichtigt und wie sie einem aggressiven Jungen aus dem Weg geht. Für die erwachsene Katharina ist es unmöglich zu sagen, ob ihre Kinderladenerfahrung gut oder schlecht für sie gewesen ist. Warum, fragte sie sich lange Zeit, nahmen ihre Eltern in Kauf, dass ihre drei Kinder schon in frühen Jahren zu gesellschaftlichen Außenseitern wurden? Katharina erfuhr dazu von Mutter und Vater viel über Politik und Pädagogik, aber wenig über ihre persönlichen Beweggründe. »Erst Jahrzehnte später habe ich es dann verstanden«, erzählt sie. »Da gab es eine öffentliche Veranstaltung, ›30 Jahre Kinderläden‹. Auf dem Podium saß die Generation meiner Eltern und berichtete von ihren Erfahrungen. Und da sagte eine Frau, mit deren Tochter ich im Kinderladen war: ›Wir wollten nicht mehr, dass unsere Kinder verprügelt werden, so wie es mit uns geschehen war.« Als Katharina ihren Vater darauf ansprach, bestätigte er den Satz dieser Mutter. Ulrike von Thalheim nannte eine andere Motivation: Es sei für sie die einzige Möglichkeit gewesen, als Mutter von drei kleinen Kindern studieren zu können.
    [184] Der Wutanfall eines Zwergs
    Laut Konzept der Kinderläden sollten den Kleinen mehr Angebote als Vorschriften gemacht werden. Sie sollten die Regeln ihres Miteinanders möglichst selbst aushandeln. Der Fernsehbeitrag von damals macht deutlich: Die Kinder werden von einer jungen Pädagogin genau beobachtet. Nur gelegentlich greift sie ein. Sie wirkt durchaus versiert, aber im Umgang mit sehr kleinen Kindern fehlt es ihr offensichtlich an Erfahrung. Dem heftigen Wutanfall eines Zwergs von zweieinhalb Jahren begegnet sie mit vernünftigen, erklärenden Argumenten – ohne Erfolg, wie

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