Kriegsenkel
Schmerz hat sich für mich in allerletzter Konsequenz in persönliche Freiheit und geistige Unabhängigkeit verwandelt.
[173] Zehntes Kapitel
KINDERLADEN-KINDER
[175] Ein Rückblick auf 1968
Im Sommer 2005 führte ich in Frankfurt ein interessantes Gespräch mit dem Banker Hilmar Kopper, Jahrgang 1935, ein Flüchtlingskind. Er machte sich Gedanken darüber, welche Spuren der Krieg in seiner Generation hinterlassen haben könnte. »Wir haben unsere Angst immer zugedeckt«, bekannte er, »und was man anderen vormacht, das macht man ja eigentlich auch sich selbst vor. Vielleicht holt uns ja über unsere Kinder die von uns selbst unausgelebte Angst wieder ein.« Er halte es durchaus für möglich, fuhr er fort, dass Kinder mit entsprechenden Sensorien ausgestattet seien. 16 Koppers Vermutung wird durch die Traumaforschung bestätigt. Die Weitergabe unverarbeiteter Belastungen an die Nachkommen ist nachweisbar, und sie findet auch außerhalb der Forschung immer mehr Beachtung. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Ausschnitt aus einem Tagungsvortrag des Bischofs Hans Christian Knuth, Schleswig.
Wir sind als Kinder der Kriegs- und Nachkriegsgeneration alle irgendwie zu Opfern schrecklicher Ereignisse geworden – und haben darüber geschwiegen. Wir haben unsere Kindheit unter traumatisierenden oder unwürdigen Umständen verbracht, viele von uns sind um ihre Kindheit buchstäblich betrogen worden – und wir haben darüber unser Leben lang nicht wirklich mit unseren Kindern geredet. Als Kinder verstanden wir nicht, wie uns geschah. Die Erwachsenen damals, also unsere Eltern, haben selber um ihr Überleben gekämpft und mit uns Kindern nicht über unsere Gefühle gesprochen. Dann hatten sie selber so sehr mit ihren Verlusterlebnissen, mit ihren Scham- und Schuldgefühlen [176] zu tun, dass sie sich lieber in die Praxis des Wiederaufbaus des zerstörten Landes stürzten, als dass sie sich um die Nöte unserer verwunderten und verwundeten Kinderseelen kümmerten. Und wir, die Kriegskinder, verdrängten unsere Fragen und Ängste, wir schluckten unsere Tränen herunter und versuchten ein ›ganz normales Leben‹ zu führen – was davon haben wir später eigentlich unseren Kindern erzählt?! Und: Was wissen wir eigentlich darüber, wie unsere Kinder vielleicht dennoch gefühlt haben, dass da in ihren Eltern, also in uns, verletzte Seelen, ungeweinte Tränen sind.
Später kam der Bischof, geboren 1940, auf seine eigene Generation, die 68er, zu sprechen und die unbequemen Fragen, die man den Eltern stellte.
Was habt ihr damals gemacht? Wart ihr aktive Unterstützer des nationalsozialistischen Systems oder wart ihr »nur Mitläufer«? Was wusstet ihr über den Widerstand gegen die Nazis? Was habt ihr erlebt und getan damals in Russland? Was wusstet ihr über die Juden und über die KZs? – Und später: Warum habt ihr nur für den Wiederaufbau gelebt, damit wir zu essen hatten und ein Dach über dem Kopf? Warum habt ihr uns nichts von euch erzählt, von eurer Zeit im Krieg, als ihr weg wart und wir Kinder allein, Kinder ohne Kindheit? Diese Fragen konnten damals, 1968, gestellt werden. Sie brachten auch Licht in die Geschichte unseres Volkes und in die Verstrickungen unserer Familiengeschichten in den allgemeineren Zusammenhang. Aber es ging fast immer nur darum, die Väter und Mütter zu fragen – und anzuklagen. Es ging darum, das Schweigen über Schuld und Versagen zu brechen, das auf uns lastete. Es war ein Akt der kulturellen und politischen Befreiung, die uns damals von manchem dunklen Fluch entlastete. [177] Aber die andere Hälfte des Schweigens, nämlich das Schweigen über unsere eigenen Ängste und Leiden als Kinder, wurde damals (noch) nicht aufgebrochen. Die seelischen Wunden und Ängste, die uns als Kinder überwältigt hatten und die wir darum tief in unser Innerstes verbannt hatten, kamen nicht zur Sprache. Wir identifizierten uns mit den Opfern der Konzentrationslager, mit den Opfern der deutschen Kriegszüge in Osteuropa. Ja, wir übertrugen unsere Identifikation mit den Opfern auf die Völker der ganzen Dritten Welt, die unter Kriegen, Kolonialismus und neuen Formen wirtschaftlicher Ausbeutung zu leiden hatten. Aber, dass wir selber als Kriegskinder auch die Opfer waren, um die wir trauern sollten und für die wir Solidarität fordern sollten, das kam uns damals nicht in den Sinn! 17
Die APO-Generation ist größtenteils im Ruhestand angekommen. Die Bärte, falls noch vorhanden, sind gestutzt,
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