Kriegsenkel
heute weiß, der folgenschwerste Fehler dieser Elterngeneration, die alles besser machen wollte.
Familienforschung und der Austausch mit interessierten Gleichaltrigen helfen Sandra und Stephanie, noch unbeantwortete Fragen zur eigenen Identität zu klären: Wie wurde ich zu dem Menschen, der ich heute bin? Was sind meine Wurzeln? Welche Ängste habe ich unbewusst von meinen Eltern und Großeltern übernommen, und welche Begabungen? Mehr über die eigenen Eltern zu wissen als diese über sich selbst, ist bei den Kindern der Kriegskinder keine Seltenheit.
Die beiden Schwestern erleben, wie sich der Nebel in ihrer Wahrnehmung allmählich auflöst. Gleichzeitig wächst ihr Vertrauen in sich selbst und ins Leben. Mal getrennt, mal gemeinsam sitzen sie über ihrem Lebenspuzzle, das sich nach und nach zu einem Ganzen zusammenfügt.
[222] Die Kriegsängste der Mutter geträumt
Die Geschichte der beiden Schwestern Sandra und Stephanie hat mir einmal mehr vor Augen geführt, dass Kinder die Kriegsängste ihrer Eltern »erben« können und wie folgenreich eine solche Erbschaft aus der vergessenen Generation sein kann. Häufig haben mir Angehörige der 60er und 70er Jahrgänge von Kriegsträumen berichtet. Doch die eindrucksvollste Beschreibung dazu las ich in einem Beitrag der Schauspielerin Esther Schweins, geboren 1970. Im ZEITmagazin schrieb sie über einen immer wiederkehrenden Alptraum aus ihrer Kindheit und Jugend 19 :
Unzählige Nächte, in denen die Mutter das Kind tröstend in den Armen wiegt. »Sie hat wieder schlecht geträumt«, sagt sie dann zum Vater. »Ich habe wieder schlecht geträumt«, höre ich mich später selbst sagen, als ich als junges Mädchen entscheide, im eigenen Bett zu bleiben, mich zu beruhigen.
Dass es gelingt, liegt daran, dass es ein immer wiederkehrender Traum ist. Das Phänomen der Wiederholung ist den Eltern nicht klar, dass es eines ist, weiß wiederum ich nicht. So wird über viele Träume gesprochen, nicht aber über diesen stets gleichen Traum: Ich trage Zöpfe, eine weiße Bluse und darüber ein blaues Dirndl. Ich laufe auf einer Wiese umher, als plötzlich ein entsetzlicher Krach Himmel und Erde aufreißt, sich Dunkelheit zu allen Seiten auftürmt, mir das Atmen unmöglich wird.
Die Dunkelheit packt mich und katapultiert mich durch eine unsichtbare Röhre ins Nichts. Auf einmal wird es wieder licht. Vor mir steht ein einäugiger Mann und hält mir einen Strauß Gänseblümchen hin. Ich nehme sie, und die Furcht weicht tiefem Frieden. Dann finde ich mich mit anderen Kindern auf einem Lehmhügel wieder. Wir spielen mit Glassteinen, [223] bis eine Windböe meine Gänseblümchen mit sich reißt. Ich darf nicht aufblicken, sonst ist wieder ein Kind weg, komme vielleicht ich an die Reihe. Ich kann nicht anders, blicke wiederholt verstohlen auf, immer fehlt eines oder mehrere Kinder. Ich weiß, sie kommen nicht wieder. Ich bin dran.
Ich stehe mit anderen Kindern vor einem Wachhäuschen an und habe Furcht. Die Männer, die uns durchwinken, lächeln. In ihren Mündern ist es schwarz. Wieder packt mich die Dunkelheit, es geht durch die unsichtbare Röhre, die ich nicht berühren darf, wie auf einer Achterbahn durch das Nichts, urplötzlich sitze ich wieder auf dem Lehmhügel. Ich bin allein. Keines der anderen Kinder ist mehr da. Dann steht dort wieder der Einäugige. Jetzt hält er nur ein Gänseblümchen in der Hand. Ich nehme es, atme auf und erwache.
Ich bin eine erwachsene Frau und meine Mutter Großmutter, als ich ihr zum ersten Mal von »demselben immer wiederkehrenden Traum« berichte. Sie hört gespannt zu. Als »Lärm und Dunkelheit sich auftürmen«, schluckt sie, und als mir der Mann die Gänseblümchen überreicht, fängt sie zu weinen an.
Sie beruhigt sich, beginnt selbst zu erzählen: Es ist März 1942, als sich meine Mutter, damals fünf, das Haar zu Zöpfen geflochten, in einem blauen Dirndl davonstiehlt, um auf einer Wiese für ihre Mutter Gänseblümchen zu pflücken. Die Mutter freut sich, stellt die Blümchen in einer Vase auf eine Kommode, als der Bombenalarm losgeht. Die Flieger sind schon über der Stadt, sie verschanzen sich im Keller. Den Kopf zwischen den Knien, bangt das kleine Mädchen um die Gänseblümchen, die nun ganz alleine auf der Kommode stehen.
Sie werden getroffen an diesem Tag, es sollte viele Stunden dauern, bis sie befreit wurden. Das Mädchen ist geblendet, [224] doch es sieht, dass es keinen dritten Stock, kein Haus, keine Kommode mehr gibt.
Weitere Kostenlose Bücher