Kriegsenkel
Bildern hatte ich das Gefühl, sie würden, während ich sie betrachtete, weiter wachsen. Später las ich auf seiner Homepage die Eröffnungsrede für eine seiner Ausstellungen. Darin fand ich folgenden Satz: »Der Künstler selbst spricht von ›Bilderbiologie‹ und meint damit, dass die Bilder ein eigenes Leben haben, ein Eigenleben aus sich heraus entwickeln.«
Während ich das Aufnahmegerät mit unserem Gespräch abhörte, [229] beschloss ich, Ulrich Schrader persönlich zu Wort kommen zu lassen, weil mir – im Unterschied zum Vater – seine eigenwillige Art des Redens ausgesprochen gut gefällt.
Aufwachsen ohne eigenes Zimmer
Am besten, ich beschreibe Ihnen, wie ich aufgewachsen bin. Ich hatte kein eigenes Zimmer, sondern nur eine Ecke in Vaters Arbeitszimmer. Dort stand sein Schreibtisch, an dem ich ihn nie sitzen sah. Ich schlief jahrelang auf einer Klappcouch, die tagsüber in einem Schrank verschwand. Mein Reich war also eine Schrankwand mit einem Motorradposter. Oben darauf stand mein Kassettenrecorder. Wohnen durfte bei uns nicht viel kosten. Als Kind ist mir das nicht aufgefallen. Aber als Jugendlicher habe ich die Enge gespürt. Es war mir so peinlich, dass ich nie Besuch hatte. Allen anderen Gleichaltrigen ging es besser, sie hatten ein eigenes Zimmer, die Eltern hatten mehr Geld, sie erzählten von interessanteren Urlauben. Sie wurden von ihren Eltern solidarisch unterstützt. So etwas gab es bei uns zu Hause nicht. Wenn etwas schief lief, war man immer selbst Schuld.
Irgendwann hieß es, der Junge soll endlich sein eigenes Zimmer bekommen. So ganz stimmte das aber immer noch nicht. Denn in dem Raum stand der Esstisch. Wenn man am Wochenende in der Disko war und am nächsten Tag ausschlafen wollte, dann ging das nicht. Denn bei uns stand um Punkt 12 das Essen auf dem Tisch.
Wie soll ich meine Eltern beschreiben? Sie sind eben Flüchtlingskinder, sie sind Anfang und Ende der dreißiger Jahre geboren. Noch heute leben sie in der alten Wohnung, in den Möbeln aus den Sechzigern. Meine Eltern sind extrem hilflos, wenn Unerwartetes geschieht – wenn zum Beispiel wir drei Kinder zu Besuch kommen und uns nicht mehr so verhalten, wie sie es [230] gewohnt sind. Ich spreche von Kleinigkeiten, von einer Stimmungsänderung, einer Meinungsänderung, einer Änderung der Vorlieben. Das halten sie nicht aus. Da fällt innerlich der Vorhang. Darum sind die ganzen Rituale so wichtig, daran können sie sich festhalten. Um 12 Uhr Mittagessen, abends um halb elf ins Bett. Sonntags beim Bäcker Kuchen kaufen. Veränderungen haben bei meinen Eltern nie stattgefunden. Der Alltag verläuft in totaler Regelmäßigkeit.
Mit Beginn meines Studiums bin ich in eine Wohngemeinschaft gezogen. Mich interessierten Grafik und Design. Ich lernte andere Gleichaltrige kennen, die frei aufgewachsen waren oder sich schon von ihren Eltern gelöst hatten. Die Diskrepanz zwischen diesen neuen lebendigen Kontakten und dem Stillstand zu Hause – auch der Stillstand in mir – setzte mich unter einen unheimlichen Druck. Ich nenne das jetzt mal die gespürte Unfähigkeit, mich zu befreien. Ganz grausam waren allerdings diese letzten zwei Jahre, bis ich es endlich schaffte, auszuziehen.
Meditation mit grauweißen Fliesen
Einer meiner Zufluchtsorte war sogar das Klo. Dort habe ich mich eingeschlossen und immer nur auf den Boden geguckt auf typische 60er Jahre Fliesen, grauweiß gesprenkelt. Sie wurden mein Medium. Ich saß da und schaute, und dabei ließ ich Formen kommen – es war wie Wolkengucken. Ich habe mich da reingerettet. Heute weiß ich, dass ich anders den Druck nicht aushalten konnte. Ich flüchtete mich in diese abstrakten Bilder, die mir aus den grauweißen Fliesen entgegenkamen. Ich konnte mir mein sonderbares Verhalten nicht erklären und auch nicht dagegen ansteuern. Es war wie ein Sog. Es war wie ein Ruf aus einer anderen Welt: Als könnten diese Bilder in den Fliesen mir eine Richtung zeigen. Tatsächlich habe ich auf diese [231] Weise in eine abstrakte Malereiebene hineingefunden. Abstrus, nicht wahr? Aber das war mein Weg in diesen zwei Jahren, im Stahlgewitter, meine härteste Zeit. Damals hat sich die Art und Weise, wie ich male, herausgebildet.
Als ich es dann endlich schaffte, zu Hause auszuziehen, war das immer noch eine extrem schwierige Sache. Ich konnte mich nicht wirklich lösen, ein Teil von mir blieb zurück. Ich bin eines Tages ausgebrochen, das stimmt, aber amputiert. In der Wohngemeinschaft hatte ich
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