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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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Aber alle sind am Leben, machen sich auf die Flucht, raus aus einer zerstörten Stadt, in der Pferdefuhrwerke und Automobile in der Mitte der nicht befestigten Kreuzungen kleine Erdhügel hinterließen, auf denen später die Kinder spielten.
    Der Vater des Mädchens und Ehemann der Mutter war zu diesem Zeitpunkt schon an der Front gefallen. Er war eingezogen worden, obwohl er nur auf einem Auge sehen konnte. Über ihn, die Kinder und die Gänseblümchen wurde nie geredet, obschon mir im Laufe meiner Jugendzeit viele »Geschichten aus dem Krieg« erzählt wurden. Dass sich Oma auf der Flucht Kohle ins Gesicht schmierte und sich einen Buckel stopfte, um vor Vergewaltigungen geschützt zu sein, wusste ich schon als Erstklässlerin. Dass dies dem Mädchen, meiner Mutter, bis Kriegsende nicht gelungen war, wusste ich nicht.
    Mein Vater konnte bis zu seinem Tod nicht im Dunkeln schlafen. Er hat Stalingrad und Gefangenschaft überlebt. Er hat Zahllose sterben sehen. Die schlimmsten Geschichten erzählte er mir erst, als ich nicht mehr sein Mädchen, sondern seine Tochter war. Ich habe die Kindheitsängste meiner Mutter »verträumt«.
    Wenn ich die Augen schließe, habe ich einen Traum. Ich träume ihn für alle und meine Tochter, für ihre und deren Kinder: dass am Ende die Liebe, das Leben, Friede, Freiheit und die Vernunft den Sieg davontragen werden. »Denselben immer wiederkehrenden Traum« träume ich nicht mehr.

[225] Zwölftes Kapitel
    GRENZEN ZIEHEN

[227] Ein später Vater
    Ulrich Schrader* ist Maler, 45 Jahre alt. Wir treffen uns in seinem Atelier in Berlin, einer Altbauwohnung im Osten. Eine gemeinsame Bekannte hatte mich auf ihn aufmerksam gemacht. Er und seine Frau, die in der DDR aufwuchs, haben einen zweijährigen Pflegesohn. Ursprünglich wollte ich ihn wegen eines anderen Themas interviewen. Ich interessierte mich für Liebesbeziehungen zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen. Aber aus den Redaktionen, die ich für das Thema begeistern wollte, kam nur müdes Abwinken. Ich rief Ulrich Schrader an, um das Interview über Ost-West-Lieben abzusagen. Im Laufe des Telefonats stellte sich heraus, dass er gleichfalls für mein Buchprojekt, »Die Kinder der Kriegskinder« einen interessanten Gesprächspartner abgeben würde. Ob er auch dazu bereit sei, fragte ich ihn. Schön möglich, meinte er, aber über die Beziehung zu seiner Frau würde er eigentlich lieber reden, das sei einfach so viel erfreulicher als das Thema Eltern – und für mich auch unterhaltsamer. Ich sagte ihm, mir sei nicht daran gelegen, erschütternde Kindheiten der sechziger Jahrgänge zu sammeln und ich würde mich auch nicht daran beteiligen, unbeholfene Eltern der dreißiger Jahrgänge an den Pranger zu stellen. Es ginge mir einzig um die Frage: Wie sind Menschen damit umgegangen, dass sie mit Eltern aufwuchsen, denen der Krieg immer noch in den Knochen steckte, was ihnen aber kaum bewusst war?
    [228] Familienklima: »Eine stillstehende graue Sauce«
    Abschließend wies ich Ulrich Schrader darauf hin, in diesem Falle würde es sich aber nicht um ein übliches Interview handeln, sondern um ein Gespräch, ein gemeinsames Nachdenken. Das schien ihn zu erleichtern. »Sie müssen wissen, ich rede etwas sonderbar«, erklärte er. »Ich ziehe Kreise, ich drehe Schleifen. Für manche Leute, zum Beispiel meinen Vater, ist das unerträglich. Meinen Sie, Sie können das aushalten?« Wir verabredeten uns an der S-Bahn-Station seines Stadtteils, aber auf Anhieb klappte das Erkennen nicht. Ich hatte ihn mir als auffällige Erscheinung vorgestellt, einen Künstlertyp eben. Es lebe das Klischee! Wir fanden über unsere Handys zusammen. Meine Mutter hätte ihn als einen adretten jungen Mann beschrieben. Man sah ihm tatsächlich sein Alter nicht an. Man käme nicht auf die Idee, ihn als einen »späten Vater« zu bezeichnen. Er machte auf mich einen ruhigen, fast bescheidenen Eindruck. Jedenfalls setzte er sich stark von der Sorte Künstler ab, die ständig ihre eigenen Werke loben – bevor man es vielleicht selbst getan hätte. Während unseres Gesprächs nannte er das Klima in seinem Elternhaus »eine stillstehende graue Sauce«. Als ich mir im Anschluss daran seine großformatigen Bilder anschaute, kam mir ein Gedanke: Dass Ulrich Schrader als junger Mensch die Welt der Farben und Formen entdeckte, muss für ihn so etwas wie eine zweite Geburt gewesen sein. So vital kann nur jemand malen, der in sich einen unverwüstlichen Kern entdeckt hat. Bei manchen

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