Kriegsenkel
Auswirkungen die Kette der Traumata auf ihre Mutter gehabt haben muss: die Vertreibung mit Bedrohung und Gewalt, das Elend im Nachkriegsdeutschland und die Verachtung, die ihnen als Flüchtlinge im Westen entgegenschlug. Vater Bernd hatte ein ähnliches Schicksal: in Pommern geboren, auch er mit drei Jahren auf der Flucht, kurze Stationen bei Verwandten, karges Überleben auf einem Bauernhof. Bis in seiner Familie wieder einigermaßen normale Verhältnisse herrschten, vergingen drei Jahre. Während dieser Zeitspanne muss der kleine Bernd ein einziges Angstbündel gewesen sein. Das allerdings offenbarte sich den Schwestern Sandra und Stephanie erst im Jahr 2008, als sie ihren Vater baten, er möge sie bei ihrer Familienforschung unterstützen. Bei einem Besuch im Haus seines Bruders, beim Sichten von alten Fotos wurde deutlich, wie lästig das schreiende Kleinkind für dessen fünf Jahre älteren Bruder gewesen sein muss. Sandra und Stephanie merkten es daran, dass ihr Onkel bis heute kein Verständnis für die Not des kleinen Bruders aufbringen kann. Auch ihr Vater zeigte sich ohne Mitgefühl für sich als Kind. Er sagte nur, und es sollte lustig klingen: »Egal was war, ich habe immer geschrien.«
Die Eltern hatten nur selten über ihre Kindheit gesprochen. Sie wären auch nie auf die Idee gekommen, ihren Töchtern vorzuhalten: »Ihr wisst doch gar nicht, wie gut ihr es habt!« Wie viele Menschen, die in den frühen vierziger Jahren geboren [215] wurden, hatten Marianne und Bernd Hagen nicht den Eindruck, sie hätten etwas besonders Schlimmes erlebt. Wie auch, sie seien ja noch so klein gewesen – aber die Erwachsenen, die hätten viel durchmachen müssen.
Nach dem Gespräch mit Sandra Hagen bin ich neugierig auf ihre Schwester Stephanie. Ich besuche sie in Wiesbaden. Ihr Lebensbericht sprudelt nur so aus ihr heraus. Dabei wechselt ihre Ausstrahlung zwischen der einer erwachsenen Frau und der eines jungen Mädchens. Im ersten Fall zeigt sich eine warmherzige und ausgesprochen weibliche Frau, in zweiten Fall eine verunsicherte Jugendliche, der schnell die Röte ins Gesicht steigt. Wenn sie das junge Mädchen ist, sagt sie manchmal unfreundliche Sätze über sich selbst, im Sinne von: »Ich habe einen Schaden«, und ihre Hand macht die dafür typische Geste vor der Stirn. Würde man nur ihre Seite als erwachsene Frau kennen, müsste man sich fragen, warum um Himmels Willen sie alleine lebt und keine eigene Familie hat. Etwas ist gewaltig schief gelaufen in ihrem Leben. Beim Thema Kinder schießen Stephanie Hagen sofort die Tränen in die Augen. Mit Ende Dreißig noch keine Familie zu haben, ist ein großer Schmerz für sie.
Zu dem Zeitpunkt, als ich sie besuchte, lebte sie in Wiesbaden und hatte sich gerade aus einer langjährigen Beziehung gelöst. Nach vielen gescheiterten Versuchen, gemeinsame Hoffnungen zu verwirklichen, ist ihr Freund nach einer eigenen Lebenskrise zurück in sein Heimatland gegangen, da er auch beruflich nicht in Deutschland Fuß fassen konnte. Stephanie bekommt als Buchhändlerin jeden Monat ihr Gehalt überwiesen. Beruflich sitzt sie fest im Sattel. Darüber hinaus empfindet sie ihr Dasein als Provisorium.
[216] Auch der Vater schien zu pubertieren
Seit der Pubertät hat sie zu ihrem Vater ein zwiespältiges Verhältnis. An dieser Stelle unterbricht Stephanie unser Gespräch und meint, es sei immer dasselbe: Wenn sie an den Vater von damals denke, breite sich ein sonderbarer Nebel in ihrem Kopf aus und ihre Gedanken würden diffus. Dann müsse sie sich bewusst konzentrieren, um beim Thema zu bleiben.
Nachdem Stephanie von ihrem Vater erzählt hat, habe ich den Eindruck: Bernd Hagen machte vor seinen Töchtern den Gockel. Er war stolz auf seinen gut gebauten Körper und präsentierte ihn gern.
Stephanie erinnert sich an eine typische Szene: »Sandra und ich schauten fern, da kam Bernd aus dem Bad, fast nackt – er hatte gerade geduscht – und er stellte sich dazu, während er sich ausgiebig mit dem Handtuch frottierte und fragte: Was guckt ihr da gerade im Fernsehen? So war Bernd. Er ging auch auf die Toilette, während eine von uns unter der Dusche stand. Wir sind nie auf die Idee gekommen, die Badezimmertür abzuschließen.« Einmal kniff der Vater Stephanie in die Seite und machte eine Bemerkung über ihren »Teenie-Speck«. Sie berichtet: »Ab da wurde Essen ein Problem für mich. Ich fühlte mich immer zu dick, obwohl ich es rückblickend auf den Fotos nicht feststellen kann.
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