Kriegsenkel
Bernd Hagen hat sehr genau beobachtet, was für Frauen aus seinen Töchtern werden.«
Stephanie Hagen und ich denken eine Weile darüber nach, warum ihre Mutter nicht auf die Idee gekommen war, den Vater auszubremsen. Weil sie selbst vaterlos aufgewachsen war und deshalb nicht wusste, wie erwachsene Männer sich in Gegenwart ihrer pubertierenden Töchter verhalten sollten? Konnte sie nicht erkennen, dass ihr Mann sich ebenfalls wie ein Pubertierender benahm? Stephanie vermutet, dass es so war. Sie erlebte nie, dass ihr Vater wegen seiner Grenzverletzungen kritisiert wurde. Ihr und ihrer Schwester ist es nie eingefallen, [217] ihm zu sagen: »Zieh dir bitte etwas an, wir sind keine Kinder mehr!«
Von ihren Freundinnen und Freunden wurden die Schwestern beneidet. »Es hieß immer, wir hätten tolle Eltern«, erzählt Stephanie. »Die besprachen auch häufig ihre Probleme mit unserer Mutter. Denn mit Mutti war das so: Über ihren Tellerrand hinaus konnte sie gut wahrnehmen und hatte viel Verständnis. Nur Sandra und mich konnte sie nicht sehen, wir befanden uns sozusagen unter ihrem Tellerrand.« Einige Jahre vor ihrem Tod wurde sie offener. Sie begriff zum ersten Mal das Ausmaß der Lebensunsicherheit ihrer Töchter. Die Mutter war schockiert und sagte: »Was haben wir denn falsch gemacht?«
Selbstverletzungen einer Jugendlichen
Mit 14 Jahren hatte Stephanie angefangen, sich selbst zu verletzen. So harmlos der Begriff »schnibbeln« klingt, der in diesem Zusammenhang häufig benutzt wird, umso schwerer wiegt es, wenn Eltern den Hilferuf nicht wirklich ernst nehmen. Im Fall von Stephanie reagierten die Eltern mit Schweigen, es gab keine sichtbare Besorgnis. Bernd Hagen spielte das Geschehen mit einem seiner Sprüche herunter, als frische Verletzungen auf den Armen seiner Tochter zu sehen waren: »Ich sollte dir wohl kein Taschenmesser mehr mitbringen!« Aus Sicht der Eltern schien nichts wirklich Schlimmes passiert zu sein. Sie warteten ab und sprachen von einer ›Phase‹, die vorübergehen würde. Vielleicht taten sie das Ganze auch als die Marotte einer überspannten Pubertierenden ab.
»Wenn ich etwas bis heute nicht ertrage«, erklärt mir Stephanie, »dann dies: Ich zeige etwas Wesentliches von mir, und mein Gegenüber reagiert nicht! Das ist das Schlimmste, was man mir antun kann!« Ihre Arme hatten frische Schnittwunden – ihre Eltern reagierten nicht. Sie lief als Punk herum, [218] schwarze Kleidung, hoch rasierte Frisur – ihre Eltern reagierten nicht. In der Schule wurde über Stephanie Hagen geredet. Einige Mitschüler und Lehrer spürten, dass etwas nicht mit ihr stimmte.
Aus dem Gespräch mit Sandra weiß ich, dass Stephanie damals sehr verschlossen gewesen sein muss. Die ältere Schwester war extrem besorgt gewesen, denn sie wusste, dass Stephanie Suizidgedanken hatte. Sandra hoffte, sie könne ihre Schwester ablenken, indem sie etwas Schönes mit ihr unternahm, was teilweise auch gelang. Es folgten Jahre, in denen Stephanie sich seltener schnitt und nach außen einigermaßen stabil wirkte. Aber dann, mit Mitte Zwanzig, kam es bei ihr zu einem Zusammenbruch. Es hatte ihre ganze Kraft erfordert, halbwegs normal zu leben und ihre Selbstverletzungen in Grenzen zu halten, und diese Kraft war nun aufgebraucht. Als Stephanie zum ersten Mal eine psychotherapeutische Praxis aufsuchte, war Sandra ihr um die Jahre, die sie älter war, voraus. Auch sie, die ›große Schwester‹, war mit Mitte Zwanzig in eine Lebenskrise geraten und ging seitdem zu einem Therapeuten. Die gemeinsame Erfahrung brachte Nähe. Die Schwestern fühlten sich in einer Weise verbunden, wie sie es vorher nicht gekannt hatten. Viele Jahre sind seitdem vergangen. Therapieerfahrung ist bei beiden reichlich vorhanden. Beide sagen, sie sähen es als großen Gewinn gegenüber der Elterngeneration, dass sie bereit waren, professionelle Hilfe anzunehmen. Ihre Eltern hatten das in entscheidenden Momenten weder für sich noch für ihre Töchter geschafft.
Gewaltrausch während einer Therapiestunde
Den ersten Hinweis, sie könnte ein Erbe aus der deutschen Vergangenheit mit sich herumschleppen, bekam Stephanie Hagen in der Therapie, als unvermutet Bilder von Trümmern und von [219] tötenden Soldaten sie überschwemmten. Sie geriet gefühlsmäßig in einen regelrechten Gewaltrausch, der sie schwer beunruhigte und den sie nicht einzuordnen wusste. Auf Anregung des Therapeuten begann Stephanie erstmals zu überlegen, was ihre Großeltern im
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