Kriegsenkel
Zweiten Weltkrieg erlebt haben mochten. Dass ihre Eltern Opfer oder Zeugen von Gewalt geworden sein könnten, kam ihr nicht in den Sinn.
In den neunziger Jahren fehlte noch das gesellschaftliche Sensorium für die Auswirkungen von Kriegstraumata in deutschen Familien. Das änderte sich, als 2005 mit einer bis dahin nicht da gewesenen Beteiligung der Bevölkerung des Kriegsendes 60 Jahre zuvor gedacht wurde. Erstmals wurde das Schicksal der deutschen Kriegskinder öffentliches Thema, und Stephanie Hagen erkannte: Das sind ja meine Eltern!
Als Sandra und Stephanie überlegten, was ihnen der Ausflug in Sachen Familienforschung, den sie gemeinsam mit ihrem Vater unternommen hatten, an neuen Erkenntnissen gebracht hatte, stimmten ihre Einschätzungen überein: Bernd hatte als kleines Kind die Ängste der Erwachsenen herausgeschrien. Das können sie ihm natürlich nicht sagen, denn solche Sichtweisen sind ihm bislang völlig fremd. Lebte ihre Mutter noch, würde sie feststellen: »Jetzt übertreibt ihr aber.« Stephanie erzählte mir noch, dass sie inzwischen herausgefunden haben, wo der gefallene Vater ihrer Mutter begraben liege. Es existiert tatsächlich eine Gedenkstätte mit seinem Namen. Sie wird in Kürze dorthin reisen und das Grab des Großvaters besuchen. Die Eltern von Sandra und Stephanie sahen sich nicht als Kriegskinder, sondern als Nachkriegskinder. Sie wussten nicht, dass sie traumatisiert waren. Sie wussten nicht, dass sie ungetröstet waren und aus diesem Mangel heraus auch ihre eigenen Kinder nicht trösten konnten. Mutter und Vater wussten nicht, wie viel alte Angst sie in sich trugen. Sie wollten perfekte Eltern sein. Dabei besaßen sie nicht einmal die Voraussetzungen, um einfach nur gute Eltern zu sein.
[220] Keine Frage, eine neue Erziehung musste her. Der Nationalsozialismus hätte sich ohne eine Bevölkerung, der eine gewisse Untertanengesinnung eingebläut worden war, nicht so verheerend, nicht so verbrecherisch entwickeln können. Es liegt also auf der Hand, dass eine neue Generation von Eltern in den sechziger und siebziger Jahren alles anders machen wollte. Und das war die Falle. Das Gegenteil von dem zu tun, was die eigenen Eltern tun, ist das nahe liegende Verhalten, wenn es darum geht, sich abzugrenzen. Bei Kindern in der Trotzphase lässt sich das gut beobachten. Von Erwachsenen dagegen erwartet man, dass sie wissen: Das Gegenteil von dem zu tun, was man ablehnt, ist in seiner Wirkung genauso schädlich.
Folgenreiches Schwarz-Weiß-Muster
Bernd und Marianne Hagen konnten ihren Irrtum nicht erkennen. Sie verhielten sich nach dem für Traumatisierte typischen Schwarz-Weiß-Muster: Ihre Kinder wurden angstfrei erzogen, also hatten sie auch bitte schön keine Angst zu haben. Ihre Kinder waren nie Gewalt ausgesetzt worden – also konnte es auch nicht sein, dass ihre Tochter Stephanie sich selbst Gewalt zufügte. Der Vater war der beste Freund seiner Kinder, also war es unmöglich, dass er ihnen schadete.
Bernd und Marianne Hagen konnten ihren Irrtum auch deshalb nicht erkennen, weil es in der Erziehungsfrage einen Generationenbruch gab. Jede Kritik der Älteren wurde von den jungen engagierten Eltern als Aufforderung missverstanden, zum autoritären Erziehungsstil zurückzukehren. Aber wohlwollender Beistand war in der Tat schwer zu identifizieren, solange sich die Älteren noch der Sprache von gestern bedienten. Sagte jemand: »Kinder müssen wissen, wo es langgeht«, verstand jeder, dem noch der Gehorsam eingeprügelt worden war, genau dies. Er zog erst gar nicht mehr in Betracht, dass [221] womöglich etwas anderes gemeint gewesen sein könnte, nämlich, dass Kinder Orientierung brauchen. Zu einem Austausch darüber, wie denn Kindern Orientierung zu geben sei, kam es dann nicht mehr – zum großen Schaden für viele Nachkommen, wie das Beispiel von Sandra und Stephanie Hagen zeigt. Sie erfuhren nicht, was es heißt, eine erwachsene Frau zu sein und wie ein erwachsener Mann sich verhält, denn ihren Eltern fehlte die entsprechende Reife und Souveränität. Traumatisiert, wie sie waren, besaßen sie nicht die dafür erforderliche innere Stabilität. Beide ignorierten sie unterschwellige Konflikte und offensichtliche Probleme in der Familie. Die Mutter beschwichtigte, der Vater machte den Kasper. Erwachsene Eltern verhalten sich anders. Marianne und Bernd Hagen wollten nicht auf die Kinder herabpredigen. Also gingen sie auf die Knie. Sie hoben die Generationsgrenze auf. Das war, wie man
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