Kriegsenkel
vorwerfen. Ihre größte Angst hat sie in dem Satz zusammengefasst: »Ich stelle mir vor, ich stehe am Pranger und werde wieder einmal aus meiner Familie ausgestoßen.« Gleichwohl, hat sie mir versichert, wolle sie unbedingt bei dem Buchprojekt mitmachen. Sie sei in dieser Hinsicht absolut entschieden. Ich weiß von Anna, dass sie im regen E-Mail-Kontakt mit anderen »Kriegsenkeln« steht. Sie hatten ihr, als sie ihre Ängste ansprach, [263] alle den Rücken gestärkt, im Sinne von: Uns würde es ähnlich gehen, aber das darf uns nicht daran hindern, offensiv mit dem Thema umzugehen – so ein Buch ist wichtig.
Ich bin stolz auf meine Eltern
Ihr Lebensgefährte hat vergleichbare Probleme nicht. Mit seinen Eltern ist er vollkommen im Reinen. Er sagt: »Ich bin stolz auf meine Mutter und meinen Vater.« Durch Anna hat er die Bekanntschaft mit Gleichaltrigen gemacht, die, wie seine Freundin, das Thema Eltern wie eine schwere Last mit sich herumtragen. Es fällt ihm nicht leicht, zu hören, wie viele Spannungen zwischen den Generationen herrschen. Er begreift nicht, warum erwachsene Menschen sich nicht in der Lage sehen, mit ihren alt gewordenen Müttern oder Vätern einen friedlichen Umgang zu pflegen. Trotz unzähliger Gespräche, die er darüber mit Anna führte, überzeugt es ihn nicht, dass der Faktor Krieg, bzw. unverdaute und vor allem unbeachtete Kriegsfolgen an dem Unfrieden maßgeblich beteiligt sein sollen.
Über seine Mutter Ursula Glaser* sagt er: »Für sie habe ich eine ganz tiefe Bewunderung, wenn ich sehe, wie sie ihr Schicksal gemeistert hat. Damals, nach der Flucht, gab es keine Selbsthilfegruppen und keine Therapie. Dennoch hat sie etwas aus ihrem Leben gemacht. Ich verdanke ihr viel. Sie war nicht verbittert, auch nicht resigniert, als sie vor einem halben Jahr starb.«
Die Mutter wurde 1931 in Ostpreußen geboren. Ihre Familie war arm. Zu einem eigenen Hof hatte es der Vater nicht gebracht. Er arbeitete für einen Gutsbesitzer. Für seine Frau und seine sechs Kinder reichte der Verdienst, den er heimbrachte, gerade zum Überleben. Jede Anschaffung, die den Rahmen des Notwendigsten gesprengt hätte, wäre unbezahlbarer Luxus gewesen. Zu Weihnachten gab es »Apfel, Nuss und Mandelkern«, [264] wie es in dem alten Lied heißt. Die sechs Geschwister teilten sich ein Fahrrad. Zur Schule ging man zu Fuß, 12 Kilometer, auch bei Regen und Schnee. Die Schuhe waren nicht wasserdicht. In einer solchen Kindheit ist Frieren etwas völlig Normales. Wie es möglich wurde, dass Ursula in einer entfernten Stadt eine höhere Mädchenlehranstalt besuchen konnte und wem die unerwartete Bildungschance zu verdanken war, ist in der Familienchronik nicht überliefert.
Bis die Rote Armee einmarschierte, blieben die Ostpreußen vom Krieg weitgehend verschont. Ab Januar 1945 hieß es, rette sich, wer kann. Eine beherzte Lehrerin von Ursula entschied, mit der ganzen Klasse Richtung Westen zu flüchten. Die Schülerinnen schafften es bis nach Mecklenburg. Dann war an eine Weiterreise nicht mehr zu denken, auch nicht an eine gemeinsame Unterkunft und Verpflegung. So kam es, dass sich Jochens Mutter mit 14 Jahren völlig allein durchschlagen musste.
Sie arbeitete auf einem Bauernhof. Um halb fünf aufstehen, die Kühe melken, den Ackerboden mit dem Handpflug bearbeiten. Lohn gab es für die Schufterei nicht, nur etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf. »Typisch für meine Mutter ist«, sagt Sohn Jochen mit Bewunderung in der Stimme, »dass sie nie über diese schwere Zeit geklagt hat.« Vermutlich hielt sie sich damals an dem Gedanken fest: »Ich lass mich nicht unterkriegen!«
Es dauerte eineinhalb Jahre, bis ihr Vater sie auf dem Mecklenburger Bauernhof ausfindig machte. Bei Nacht überquerten sie die grüne Grenze zwischen der russischen und der englischen Zone. Die Familie fand in einem kleinen Ort in Niedersachsen wieder zusammen. Nur einer fehlte. Ein Bruder hatte sich in den letzten Kriegstagen freiwillig zur Wehrmacht gemeldet. Seine Eltern waren entsetzt gewesen. Nun gehörte der Bruder zu den Millionen vermissten Männern dieses Krieges.
[265] Neubeginn im Rheinland
Ursula besaß keinen Schulabschluss, keine Ausbildung und hatte damit grundsätzlich schlechte Karten bei der Arbeitssuche. Anfang der fünfziger Jahre schrieb ihr eine ältere Schwester aus dem Rheinland, dort würden Leute gesucht, die zupacken könnten. Sie wurde als Verkäuferin in einem renommierten Damenbekleidungsgeschäft in Köln
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