Kriegsenkel
ihre seelischen Verletzungen würden nicht heilen können.
[255] Der Unfall
Kurze Zeit später geschah ein Unfall, den Tina ihrem seelischen Stress zuschreibt. Während sie unter der Dusche stand, brach sie wie vom Blitz getroffen zusammen. Sie schlug mit dem Genick auf dem Wannenrand auf und erlitt erhebliche Verletzungen. Als Kind hatte sie sich Schmerzunempfindlichkeit antrainiert. Doch nun funktionierte die psychische Betäubung nicht mehr. »Meine Schmerzen waren einfach unbeschreiblich.« Neun Monate war sie danach arbeitsunfähig. Drei Jahre liegt die Trennung von den Eltern zurück. Für Tina Großschmitt war es die richtige Entscheidung. Sie fühlt sich befreit, die Heilung schreitet in kleinen aber in der Summe bedeutenden Schritten voran. »Ich bin stolz darauf, was ich geschafft habe«, sagt sie, »auch wenn mich die Traurigkeit über meine Erfahrungen manchmal einholt.« Sie denkt eine Weile nach, dann fügt sie hinzu: »So positiv ich mich mittlerweile spüre, so kraftvoll ich mein Leben lebe, so kenne ich aber auch die Phasen oder Momente tiefer Selbstzweifel und Verzweiflung. Nur stark bin ich sicherlich nicht. Die Botschaft, nicht erwünscht bzw. als Person nicht liebenswert zu sein, wirkt noch immer in der Tiefe meiner Seele nach.«
Ich frage sie, was sonst noch geblieben ist von den Schreckensseiten ihrer Kindheit. Sie nennt die Angst vor betrunkenen aggressiven Männern und vor freilaufenden Hunden, beides für sie gleichbedeutend mit unkontrollierter Aggression. Weiterhin wird sie von einem starken Kontrolldrang gesteuert, was ihrem Privatleben nicht immer gut bekommt. Liebe und Kontrolle schließen einander aus. Beruflich steht sie besser da denn je. Ihre Chefs sind voller Anerkennung.
[257] Dreizehntes Kapitel
ALS DIE HOCHZEIT ABGESAGT WURDE
[259] Ein beharrliches Paar
Wenn Anna Behrend* und Jochen Glaser* eine Medaille verdient haben, dann die für Ausdauer und Beharrlichkeit. Seit sieben Jahren sind sie ein Paar. Mal wohnten sie zusammen, dann wieder nicht. Kein Wunder, dass Freundinnen und Freunde irgendwann stöhnten: »Gebt doch endlich auf. Ihr passt nicht zusammen!« Anna und Jochen aus Frankfurt taten das Gegenteil. Vor kurzem bezogen sie erneut eine gemeinsame Wohnung. Inzwischen nehmen sie sogar regelmäßig an einem »Beziehungs-Coaching« teil. Es entsprach dem dringenden Wunsch von Anna, und es kostete Jochen erhebliche Überwindung zuzustimmen. Er tat es, weil er sie liebt und sie nicht verlieren wollte. Inzwischen benutzt er nicht nur den Begriff »Coaching«, er spricht von ihrer gemeinsamen »Paar-Therapie«. Hätte ein Hellseher ihm das vor ein paar Jahren vorausgesagt, Jochen hätte nur höflich den Kopf geschüttelt und bei sich gedacht: Dieser Mann hat keine Ahnung, wen er da vor sich hat.
Nie wäre der Ingenieur und Brückenbauer auf die Idee gekommen, eine psychotherapeutische Praxis aufzusuchen und erst recht keinen Hellseher. Jochen Glaser, 45 Jahre alt, ein gut verdienender Beamter, ist Leiter einer behördlichen Dienststelle. Neuen Herausforderungen stellt er sich gern. Berufsbegleitend hat er noch zwei weitere Studiengänge und eine Reihe von Zusatzausbildungen abgeschlossen. Fast nie macht er Urlaub. Er braucht die Zeit, um Lehrveranstaltungen zu besuchen oder um sich auf eine Prüfung vorzubereiten. Und seine Vorgesetzten danken es ihm. Jedes Mal, wenn er ein Examen hinter sich hatte, wurde er befördert. Verzögerungen oder gar Sackgassen auf dem Karriereweg hat er nicht kennen gelernt.
Anna Behrend arbeitet als Ärztin in einer privaten Klinik für [260] Suchtkranke: 30-Stunden-Woche, geringes Einkommen, ohne interessante Berufsperspektive an ihrem derzeitigen Arbeitsplatz. Sie fühlt sich unterfordert. Seit kurzem macht sie eine Ausbildung zur Familientherapeutin. Vielleicht wird sie sich eines Tages selbständig machen. Sie hat das Gefühl: Wenn sie nicht jetzt, mit Anfang Vierzig, endlich den Hebel umlegt, dann kann sie ihren Traum von einem interessanten, gut bezahlten Beruf streichen – und sie wird im Alter von ihrer Rente kaum leben können. Noch immer kämpft sie mit Selbstzweifeln. Manchmal wünscht sie sich, ihr Freund könnte ihr etwas von seiner unerschütterlichen Zuversicht abgeben. Im Unterschied zu ihm glaubt sie keineswegs alles hinzukriegen, was sie sich vornimmt.
Jochen Glaser, der sich in der Welt der Fakten heimisch fühlt, fand das Procedere im Rahmen einer Paartherapie sehr befremdlich, und das erklärt er mir so: »Unsereins
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