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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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der Geburt in den Arm gelegt bekommt. Doch heute denkt kaum jemand mehr daran, dass es einmal völlig anders war. Das wäre zu bedenken, wenn Menschen der 60er-Jahrgänge über eine schwierige Beziehung zur Mutter klagen. Nicht alles ist dem Krieg und seinen Folgen geschuldet. Die im Nationalsozialismus propagierte Dressur von Kindern – wobei das Erziehungsbuch von Johanna Haarer »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« 20 den verheerendsten Einfluss hatte –, hinterließ auch in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften deutliche Spuren.
    Die Trennung von Mutter und Neugeborenem, die rigiden Stillzeiten und die weit verbreitete Vorstellung, man müsse ein Kind brüllen lassen, dann werde es sich am ehesten beruhigen, trugen zu massiven Verunsicherungen am Lebensbeginn bei. Wenn viele Kriegsenkel heute sagen, ihnen fehle ein Grundgefühl von Geborgensein, dürfen die damals vorherrschenden [253] Einstellungen in der Geburtsmedizin und in der frühkindlichen Erziehung nicht ausgeblendet werden.
    Das brüllende Kind
    Tina Großschmitt gehörte, wie sie mir berichtete, zu den Kindern, die man brüllen ließ, aber ohne Erfolg. Sie beruhigte sich nicht! »Ich war als brüllendes Kind für die Eltern so entsetzlich«, erklärt sie mir, »dass sie kein zweites wollten, was sie mir gegenüber immer wieder vorwurfsvoll äußerten«. Mit sechs Jahren wurde sie aus der gemeinsamen Wohnung ausquartiert. Ihr Zimmer war fortan die Mansarde. Sie erhielt einen eigenen Schlüssel. Anpassungsfähig wie sie war, richtete sie sich in ihrem eigenen Reich ein und entdeckte auch Vorteile. Sie führte schon früh ein Doppelleben. In ihrer Mansarde blieb sie unentdeckt, wenn auch nicht unkontrolliert. Durch ein Babyphon wurde sie jahrelang dauerüberwacht, was sie erst mit etwa 15 Jahren beenden konnte. Sie spielte die Rolle des »perfekten Kindes«, wie sie sagt. Mit zehn Jahren fing sie an, heimlich zu essen, genauer, sich voll zu stopfen. Im Beisein des Vaters spielte sie die Unempfindliche; sie gewöhnte sich das Weinen ab, wenn er sie schlug oder demütigte. »Er sollte mich nicht weinen sehen. Diesen Triumph gönnte ich ihm einfach nicht.«
    Später leugneten beide Eltern die Misshandlungen ihrer Tochter. Sie sagten: »Das hast du dir alles eingebildet. Du übertreibst maßlos. Das Gegenteil ist richtig: Du bist von uns nur verwöhnt worden. Welches Kind hat es so gut gehabt wie du?«
    Dass sie materiell verwöhnt wurde wie kaum ein anderes Kind, dem stimmt Tina Großschmitt voll zu. Der Sommerurlaub am Meer – eine Selbstverständlichkeit. Man hat ihr das Abitur und Studium ermöglicht. Sie wurde mit Geschenken überschüttet. »Es waren so viele, dass ich mich als Jugendliche dagegen wehrte«, erzählt sie. »Ich wollte ja etwas anderes von [254] den Eltern, Wärme und Aufmerksamkeit, aber das gab es nicht.« Und was auch noch zu jenen Jahren gehört: »Ich habe mir immer eine Zwillingsschwester an die Seite geträumt, wollte nicht alleine dem ganzen Wahnsinn ausgeliefert sein, wenigstens einen Menschen haben, der mich und meine Situation verstand.«
    Tina Großschmitt hat inzwischen genügend Selbstbewusstsein erworben, um sich von der Sichtweise ihrer Eltern nicht mehr irritieren zu lassen. Sie hat die Einstellung: »Ich will nicht mehr weggucken.« Als sie genügend innere Stärke gesammelt hatte, beschloss sie einen entscheidenden Schritt. Sie wollte ihren Eltern ins Gesicht sagen, dass sie sich von ihnen trennen werde. Wieder erfasste sie die Todesangst vor ihrem cholerischen Vater. »Aber ich war gut gewappnet«, berichtet sie. Freunde wussten, was sie vorhatte. Sollte Tina sich zwei Stunden nach dem Treffen mit ihren Eltern nicht zurückgemeldet haben, würden die Freunde die Polizei einschalten. »Ich habe zur Vorsicht meine Sportbrille angezogen, damit kein Glas splittert, sollte Vater mir ins Gesicht schlagen«, fügt sie hinzu.
    Die letzte Begegnung der drei Mitglieder der Familie Großschmitt verlief ohne körperliche Gewalt, aber von einer Annäherung konnte keine Rede sein. Tina sagt, sie hab auch ihre Mutter nicht geschont: Sie sollte ja nicht glauben, er sei der Böse und sie die Gute – das Opfer, als das sie sich selbst sah. Der Kontaktabbruch zwischen Kindern und Eltern ist nicht vorgesehen. Unsere Sprache hat dafür keinen eigenen Begriff. Aber Tina wusste: So lange Mutter und Vater leugneten, was sie ihr früher angetan hatten, würde jede neue Begegnung den Schmerz ihrer Traumata wiederbeleben und

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