Kriegsenkel
erwartet doch, dass er nach einer Fachbesprechung ein Protokoll zugeschickt bekommt, das die wichtigsten Punkte und Lösungsvorschläge festhält. Ich bin nun mal ergebnisorientiert.« Er sah keinen Sinn darin, sich mit Fragen zu befassen, auf die es keine konkreten, sondern nur »gefühlte« Antworten gibt. »Aber andererseits sah ich das glückliche Gesicht von Anna, weil sie wirklich daran glaubt, dass uns diese Therapie miteinander weiterbringt. Inzwischen ist es aber auch für mich okay, weil ich erkannt habe: Über bestimmte Dinge können wir zwei allein – also ohne Begleitung – nicht reden.« Er hat entdeckt, dass das Aussprechen widersprüchlicher Gefühle und gegenseitiger Erwartungen auch ihm gut tut, gelegentlich jedenfalls. »Anna hat ihre Welt, und ich habe meine Welt, doch die Schnittmenge wird langsam größer.«
[261] Sie könnten Geschwister sein
Wie zu erwarten drückt seine Lebensgefährtin den gleichen Inhalt auf andere Weise aus: »Es ist beglückend zu merken, dass wir uns beide bewegt haben.« Heute könnten sie auch ihre Gemeinsamkeiten erkennen. Früher hätten sie fast ausschließlich darauf gestarrt, dass sie beide so unterschiedlich seien. Mein erster Eindruck von ihnen entspricht dem allerdings nicht. Sie sind beide hoch gewachsen, gleich schlank und blond. Anna trägt ihr Haar fast so kurz wie Jochen. Beide sind im Gespräch wach und lebhaft. Sie könnten Geschwister sein.
Als ich sie in Frankfurt besuche, führen sie mich als erstes in ihrer frischbezogenen Wohnung herum. Nur wenige Möbelstücke stehen im Wohnzimmer. So akkurat kann es nur in einer kinderlosen Umgebung aussehen. Vom Balkon aus erkennt man einen kleinen Abschnitt der Alten Brücke. Jochen Glaser sagt, der Anblick freue ihn jedes Mal aufs Neue. Warum das so ist, erschließt sich mir erst, als er mich vor eine Wand in seinem Arbeitszimmer führt. Sechs Abbildungen zeigen die unterschiedlichen Konstruktionen der Mainbrücke vom 13. Jahrhundert bis heute. Kontinuität und Wandel sind für den studierten Brückenbauer kein Widerspruch. Davon zeugt eine ganze Wand mit Zertifikaten und Urkunden. Das Sammeln von Qualifikationen ist offensichtlich sein Hobby. Ein weiteres Dokument verweist auf seine vier Jahre bei der Bundeswehr. Jochen Glaser war nicht irgendwo und irgendwer, sondern Offizier einer Elitetruppe, genauer: Fallschirmspringer in einer Fernspähkompagnie. Das seien diejenigen, erklärt er mir, die bis 200 Kilometer hinter den Kampflinien im Feindesland abspringen, mit dem Auftrag, die Lage auszuspähen. Völlig allein müssten sie sich durchschlagen, daher die Einzelkämpferausbildung. »Bei den Fallschirmspringern habe ich gelernt, extreme Angst zu überwinden und im großen Umfang Verantwortung zu übernehmen«, fügt er noch hinzu. »Dort bin ich erwachsen geworden.«
[262] Die Männer in Annas Freundeskreis haben überwiegend Zivildienst geleistet. Nie und nimmer hätten Jochen und Anna sich über eine Partnerschaftsbörse im Internet kennen gelernt. Ihre Profile wären einfach nicht kompatibel gewesen. Sie erzählen mir, es grenze an ein Wunder, dass sie sich überhaupt über den Weg gelaufen seien. »Jochen hat auch keinen Hang zum Alkoholismus«, sagt Anna mit einem leisen Lachen, »andernfalls wäre er vielleicht mein Patient geworden.« Das Paar lernte sich bei einer Fortbildung kennen, bei einem Rhetorikkurs. Anna Behrend, noch immer ohne Doktortitel, wollte ihre Angst vor öffentlichen Auftritten mildern. Sie wollte sich endlich trauen, Vorträge zu halten. Jochen Glaser dagegen spricht ausgesprochen gern vor Publikum; er wollte in dem Rhetorikkurs lernen, komplizierte Sachverhalte anschaulicher zu vermitteln. Anna und Jochen haben mir am Telefon gesagt, sie möchten getrennte Gespräche mit mir führen. Während ich mein Aufnahmegerät auf den Tisch stelle, verabschiedet sich Anna. Sie hat einen Termin bei ihrer Psychotherapeutin. Es beunruhigt sie mehr als erwartet, an einem Projekt beteiligt zu sein, in dem es nicht nur um die Veröffentlichung eines Teils ihrer eigenen Geschichte, sondern auch die ihrer Familie geht. Auf keinen Fall möchte sie als erwachsene Frau den Eindruck erwecken, sie wolle – um sich selbst zu entlasten – Mutter oder Vater schlecht machen. Obwohl Anna Behrend weiß, dass ihre Eltern nichts davon erfahren werden, es sei denn, sie selbst enttarnt die Anonymisierungen, befürchtet sie, man werde sie durch einen dummen Zufall identifizieren und ihr »Familienverrat«
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