Kriegsgebiete
Daniel wartete neben seinem
angelehnten Mountainbike auf dem Parkplatz eines nahe gelegenen
Supermarkts. Normalerweise wäre er einfach auf dem Fahrradsattel
sitzen geblieben, abwechselnd ein Bein auf dem Boden, aber sein
Steißbein sandte seit der Auseinandersetzung mit Rainer
andauernd Warnsignale aus. Es war sauer. An das Steißbein
dachte man nur, wenn es in Mitleidenschaft gezogen war.
Daniel
hatte sich im Supermarkt eine Packung gesalzene Erdnüsse
gekauft. Angeblich beruhigten Erdnüsse die Nerven, aber Daniel
konnte die Wirkung nicht so recht wahrnehmen. Die Schmerzen waren da
und die Blutergüsse wuchsen. Immerhin kauten sich die Nüsse
gut. Zur vollen Stunde verstummten die Instrumente. Die nervige
Frauenstimme. Die ganze Geräuschkulisse. Die Unterrichtsstunden
waren zu Ende. In den letzten Minuten hatten bereits die
nachfolgenden Schüler die Musikschule betreten und warteten nun
ihrerseits mit unterschiedlicher Vorfreude darauf, ihre Instrumente
zu stimmen oder sich nach einer streng geheimen japanischen Methode
einzusingen. Irgendwo klimperte noch ein einzelnes Klavier. What A
Difference A Day Makes . Super Song. Eine Melodie, die selbst ein
unmusikalischer Charts-Hörer sofort erkannte. Kam manchmal im
Oldie-Radio. Außerdem hatte Maik massiv Entwicklungshilfe
hinsichtlich der Ausrichtung Daniels musikalischer Geschmacksnerven
geleistet.
Früher
– als Lea zu klein zum Radfahren war und es noch ein
Familienleben gab und nicht den ganzen Trennungsscheiß –
hatte Daniel seine Tochter jede Woche mit dem Auto zur Musikschule
gefahren. In der Stunde, die er warten musste, ging er meistens in
eine nahe gelegene Frittenbude und trank einen Milchkaffee. Der
Kaffee war scheiße. Statt Milch und Kaffee schmeckte man
ranziges Fett heraus. Aus den aufgehängten Fernsehapparaten
quetschten sich Musikvideos und Kinotrailer. Ketchup fürs Hirn.
Manche der Trailer ersparten auch den Film, weil man sofort wusste,
wie er ausgehen würde. Hin und wieder ging er nicht in den
Hackfleischpalast sondern in den Elektronikmarkt, aber eher selten.
Diese Besuche fielen zu kostspielig aus. Die Musikschule
veranstaltete einmal im Jahr ein Konzert in einem Autohaus, das als
Sponsor auftrat. Dabei traten alle Schüler auf. Daniel war zwei
Jahre in Folge mächtig stolz auf seine Tochter gewesen.
Im
dritten Jahr konnte er nicht dabei sein. Afghanistan kam dazwischen.
Vor dem Auslandseinsatz knallten sich Melanie und Daniel Optimismus
um die Ohren. Beim Abschied gaben sich beide Mühe, den
Tränendrüsen nicht nachzugeben. Nur Lea weinte. Zu Hause
hinterlässt man eine Lücke. Schnell entwickelt man Rituale.
Das Telefongespräch zweimal die Woche. Die E-Mail jeden Abend,
wenn das Internet nicht aus Sicherheitsgründen abgestellt war.
In den Mails achtete Daniel darauf, nichts von den Gefahren zu
schreiben, denen er tagsüber ausgesetzt war. Mal wieder eine
Rakete, die auf das Camp abgefeuert wurde. Die Verluste in der
holländischen Einheit. Davon schrieb Daniel nichts, außer
wenn bei Spiegel Online darüber berichtet wurde. Die erlaubten
zwei Dosen Bier am Abend genügten Daniel meistens nicht, die
bereits abgeschickte Mail in einem positiven Licht zu sehen.
Eigentlich war sie nie perfekt. Hinterher gab es immer einen
missverständlichen Satz. Am Telefon verplapperte man sich noch
schneller. Die Kommunikationspannen ließen sich in nahezu
fünftausend Kilometern Entfernung Luftlinie nicht so schnell
ausbügeln. Daheim genügte oft eine kleine Berührung.
Oder einfach Sex. Nach drei Wochen hatte ihm Melanie Nacktbilder von
sich geschickt. Keine von der harmlosen Art, sondern solche, die
keine Wünsche offen ließen. Nachdem es zwischen ihm und
Melanie nicht mehr funktionierte – obwohl sie sich alle Mühe
gegeben hatten, mit Eheberatung und nächtlichen
Gesprächsmarathons und allem – hatte Daniel die Fotos
gelöscht. Er fand, dass er keinen Anspruch mehr darauf hatte.
Dafür, sie aus Rache ins Internet zu stellen, war er einfach
nicht der richtige Typ. Außerdem konnte er verstehen, dass es
seine Frau nicht mehr mit einem Ehemann aushielt, dessen Psyche
komplett zerschossen war. Zugegeben: Danach hatte er noch mehr als
einmal probiert, die Nacktfotos wiederherzustellen, weil er Melanie
immer noch liebte oder wenigstens ihren Körper begehrte, geil
auf sie war konnte man auch sagen, aber die Dateien waren einfach
im digitalen Nichts verschwunden. Bei ihrem Auszug hatte Melanie das
Notebook mitgenommen. Seither konnte er nicht
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