Kriegsgebiete

Rücken spüren. Er nahm gleich
mehrere Stufen auf einmal. Nachdem er die Haustür geöffnet
hatte, schaute er links und rechts. Wie ein Erstklässler auf dem
Weg zur Schule. Nirgendwo ein Feind. Nicht links. Nicht rechts. Die
Straße nur ausgeleuchtete Leere. Kein Mensch. Kein
Serienmörder. Kein Taliban. Um die Leere herum dickes Dunkel. In
Bewegung bleiben. Daniel rannte über die Straße. An seinem
Rad vorbei. Hinein in die Grünfläche vor einem Mietshaus,
das einem Monopoly-Spiel entsprungen zu sein schien. Daniel stand vor
einem Busch und wusste nicht, was er machen sollte. Da war kein Feind
im Schatten.
    »Ich
krieg dich«, flüsterte Daniel.
    Er
drehte sich um und ging zurück zum Rad. Maik stand oben am
Fenster. Musste komisch ausgesehen haben, was er eben gemacht hatte.
Wahrscheinlich wünschte sich Maik seinen Wohnungsschlüssel
zurück. Daniel hob den Arm und winkte nach oben. Maik winkte
zurück. Das Fahrrad abgekettet und losgefahren. Der Fahrtwind
floss wie Flüssigeis durch seine Nervenbahnen. Nur nicht gleich
heim. Das Haus, der Garten, das Sofa. Es gab keinen Rückzugsort
mehr. Kein verdammtes Machu Picchu. Ziellos durch die Straßen
fahren. Sich nicht in die Opferrolle fügen. In Bewegung bleiben.
Kein leichtes Ziel abgeben.
    Außerdem
ließ es sich auf dem Fahrrad leichter denken. Daniel wusste,
dass er dringend einen Einfall brauchte. Musste nicht mal ein
besonders guter Einfall sein. Planlos durch die Gegend fahren bekam
eine ganz neue Bedeutung. Daniels Blick war starr auf den dünnen
Lichtkegel der Fahrradlampe gerichtet. Die Umgebung nach verdächtigen
Bewegungen abzusuchen machte keinen Sinn. Für einen Profi wäre
er ein leichtes Ziel. Auch in Bewegung. Wer sagt denn, dass der
Mörder ein Profi ist?, dachte Daniel. Mit einem Messer konnte
jeder Teenager große klaffende Wunden herbeiführen. Ein
irrer Serienkiller, der wahllos eine Kassiererin, eine Studentin,
eine Schauspielerin und einen Psychotherapeuten umgebracht hatte.
Menschen, die nicht vorbereitet gewesen waren.
    »Afghanistan«,
murmelte Daniel. Er erschrak über das Wort. So leise und
nuschelnd es auch über seine Lippen gehuscht sein mochte.
Geflüstert, während er im Stehen einen kleinen Berg
hochfuhr. In einem hohen Gang, um seine Beine zu spüren. Und die
Anstrengung. Daniels Gedanken kehrten zu den Taliban zurück. Sie
schlachteten ihre Geiseln wie Opfertiere beim Zuckerfest. Das Messer
würde zu ihnen passen. Ein perfider Plan, um den Krieg in die
Heimat ihrer Besatzer zu tragen, auch. Bullshit. Daniel fuhr
schneller, um sein altes Feindbild auszuschwitzen. Es hinderte nur am
Denken.
    Ein
Irrer. Ein Psychopath. Ein kranker Mensch.
    Ein
Schatten huschte auf die Straße, als würde die Dunkelheit
in den Lichtkegel der Lampe eindringen. Eine Katze blieb direkt vor
ihm auf der Straße stehen. Phosphoraugen. Größer
werdend. Daniel bremste mit voller Kraft und verriss den Lenker zu
einem Ausweichmanöver.
    Einen
Moment war er ganz frei. Er hatte die Bindung zu seinem Fahrrad, zu
allem verloren. Ein erschrecktes Einatmen lang war die Fliehkraft
stärker. Dann gewann die Schwerkraft wieder Oberhand. Obwohl
Daniel sich noch mit einer Handfläche abzufangen versuchte,
kamen die Lendenwirbel zuerst auf dem Asphalt auf. Sofort platzten
die Schmerzen ins Hirn. Die schnellen A-Delta-Nervenfasern leiten
Schmerzinformationen mit einer Geschwindigkeit von bis zu dreißig
Metern in der Sekunde. Scheiße. Wieder auf die gleiche Stelle.
    Wenigstens
hat es den Kopf nicht erwischt, dachte Daniel. Ein Fahrradhelm wäre
gut. Sein Schwur, keine Helme mehr zu tragen, musste dringend
überdacht werden.
    Daniel
hob den Kopf. Die Katze hatte einen Satz zur Seite gemacht, als er
über den Lenker katapultiert worden war. Von der anderen
Straßenseite aus musterte sie ihn neugierig. Das Tier und er
waren auf Augenhöhe. Die grünen Katzenaugen funkelten ihn
an. Bösartig vielleicht. Oder nur neugierig. Oder weil es ihre
Raubtiernatur war. Katzen haben im hinteren Teil des Auges eine
Schicht, die so ähnlich wie ein Spiegel wirkt. Sie bündelt
das Licht und wirft es zurück. Das hat den Zweck, dass die
Sehzellen das wenige Licht doppelt nutzen können. Gleichzeitig
lässt das zurückgeworfene Licht die Augen aufleuchten.
Wissen aus einer Doku im Discovery Channel.
    Die
Schmerzen meldeten sich lautstark zurück, weil sie nicht
genügend gewürdigt wurden. Nicht schlecht nach so einem
Sturz, dachte Daniel. Besser Schmerzen als gar kein Gefühl. Er
konnte