Kriminalgeschichte des Christentums Band 08 - Das 15 und 16 Jahrhundert
Mütter ihre Kinder – »Manche holten die Verhungernden ins Haus, töteten sie und legten sie in Salz ...« (IV 490).
Alle Naturgewalten trafen, wie immer, die Armen zuerst und gewöhnlich auch allein. Die herrschende, sehr schmale aristokratisch-klerikale Klasse wurde davon, jedenfalls direkt, kaum berührt. Die regierte und kommandierte. Die große Menge aber hatte bloß zu dulden, zu darben, zu leiden, hatte nur den Rücken hinzuhalten, auf dem sich die Geschichte, das gebietende Pack, ausagieren konnte, ganz nach Lust und Laune und aller Gier. Schützte man das Volk wenigstens nach außen? Man schützte es im Eigeninteresse, aus nacktem Egoismus. Und es zitterte, zitterte vor den Beschützern wie vor Feinden. Die »Beschützer« waren seine Feinde. Das Volk hatte Hunger und es hatte Angst. Angst: geradezu »eine Grunderfahrung des bäuerlichen Daseins« (Rösener), eine Grunderfahrung somit der meisten mittelalterlichen Menschen.
793 berichten die Lorscher Annalen den Hungertod vieler, die Annales Mosellani melden Menschenfresserei. 805, 806, 807 und 809 erfolgen neue Hungersnöte – im Jahr 806 offenbar mit ausgelöst durch Karls Heeresaufgebot und dessen Versorgung. Der karolingische Chronist und Abt von St. Riquier, Nithard, kann gleichwohl prahlen, Karl »der Große« habe »das gesamte Europa« in Frieden und Wohlstand hinterlassen. Ja, späteren Generationen gilt seine Ära als goldenes Zeitalter. Tatsächlich jedoch melden zwischen 763 und 843, also unter seiner und seines Sohnes Herrschaft, die Annalen und Kapitularien von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, zuweilen von Jahr zu Jahr, ausgedehnte Hungerkatastrophen – aber die Massen zählen ja nicht.
In Wirklichkeit war die Not, zumal in den zwanziger Jahren des 9. Jahrhunderts, im fränkischen Reich fast unbeschreiblich. Ein großes Sterben unter Mensch und Tier ging um, es kam zu unerhörten Teuerungen. Und Bischöfe selber klagten 829 bei Ludwig dem Frommen über weltliche wie geistliche Wucherer, durch deren Machenschaften Ungezählte verhungert, viele ausgewandert sind. Doch all dies trat rasch in den Hintergrund »vor der die Kirche bald ausschließlich beschäftigende Frage der Unverletzlichkeit ihre Gutes« (Sommerlad, vgl. S. 84 ff., 93 ff.).
Das Elend der Massen nämlich bedeutet dem Klerus noch weniger als dem Staat – und nützt ihm wunderbarerweise, weil die Frömmigkeit der vom Schicksal Geschlagenen stets wächst. Auch 868 haben Menschen bei einem entsetzlichen Nahrungsmangel im fränkischen Reich, wie wohl glaubwürdig bezeugt, da und dort nicht nur Hunde, sondern wiederum Menschen geschlachtet und gegessen. Im 11. Jahrhundert nimmt ein Haufen Hungriger dem Trierer Erzbischof Poppo samt Begleitern auf dem Ritt zur Kirche gleichsam unterm Hintern die Reittiere fort und zerreißt, verschlingt sie vor aller Augen. 13
1097 kommt es zu einer Nahrungsmittelnot im Anjou, 1099 auch außerhalb. 1122 beginnt eine Hungersdrangsal in Portugal, 1124 in Frankreich, ebenso in Deutschland, 1126 in Flandern, wobei wieder viele sterben. Südfranzösische Kaufleute fahren enorme Getreidemengen mit Schiffen heran. In Brügge kaufen der Ritter Lambert van Straet, ein Bruder des Propstes von St. Donatus, und sein Sohn nicht nur dieses Getreide, sondern alle Zehntabgaben umliegender Stifter und Klöster zu niedrigen Preisen: »Ihre Speicher«, schreibt Mönch Sigebert von Gembloux, einer der großen mittelalterlichen Chronisten, Autor der berühmten »Weltchronik« (Chronica universalis) und im Investiturstreit brillanter Parteigänger des Kaisers, »ihre Speicher waren gefüllt mit allen Arten von Getreide; aber sie verkauften sie so teuer, daß die Armen nichts davon kaufen konnten.« 14
Die ritterlichen Gangster hätten sich auf ein illustres Vorbild berufen können: auf den Heiligen Vater Papst Sabinian, der 605 bei einer Hungersnot in Rom alle ihn anflehenden Christgläubigen kaltblütig hungern und zugrundegehen ließ, um dann sein Korn zu Wucherpreisen loszuschlagen (IV 335).
Selbstverständlich hoffte auf diese Weise noch mancher zu mehr Geld zu kommen. Raoul von Wanneville, zum Beispiel, Bischof von Lisieux und Kanzler des britischen Königreiches, angesichts der Hungergeißel von 1194. Deshalb redete ihm Petrus von Blois, selbst reich bepfründet, brieflich ins Gewissen: »Bereits sind Tausende von Armen an Hunger und Not gestorben, und noch nicht auf einen einzigen hast du deine wohltätige Hand gelegt ... Die Ernte verdirbt bereits auf den Feldern
Weitere Kostenlose Bücher