Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
schwirren sie herum und brüllen: ›Ruhe! Schritt halten!‹«
Zweiter Soldat: »Du hast dauernd was zu meckern, genau wie ein Pole. Bring nicht die Vorsehung gegen uns auf, der wir für unser Leben danken sollten.«
Erster Soldat: »Dir ist alles egal, solange du nicht gepeitscht wirst.«
Chodasiewicz sprach von Chaos und Verwirrung, von kaum noch nüchternen Offizieren, »von den zehn Minuten der Furcht und des Zitterns in der zweiten Reihe auf dem Hügel, als wir die Kavallerie des Feindes heranreiten sahen, die die fliehenden Nachzügler, hauptsächlich Verwundete, niedersäbelte«. 25
Am Ende wurden die Russen nicht nur durch die überlegene Feuerkraft des Minié-Gewehrs besiegt, sondern auch, weil sie die Nerven verloren hatten. Für Ardant du Picq, der seine Militärtheorie anhand von Fragebögen entwickelte, die er an der Alma-Schlacht beteiligten Franzosen geschickt hatte, war dieser moralische Faktor das entscheidende Element der modernen Kriegführung. Große Gruppen von Männern stießen selten physisch aufeinander, behauptete er, weil eine Seite kurz vor dem Zusammenprall fast immer den Mut verlor und davonlief. Wesentlich auf dem Schlachtfeld sei die Disziplin – die Fähigkeit der Offiziere, ihre Männer zusammenzuhalten und an der Flucht aus Furcht zu hindern – , denn wenn Soldaten dem Feind den Rücken zuwandten, sei die Wahrscheinlichkeit, getötet zu werden, am größten. Mithin sei die Unterdrückung der Furcht die Hauptaufgabe des Offiziers, die er nur durch seine eigene Autorität und die Geschlossenheit, die er seinen Männern beibrachte, erfüllen könne.
Was den Soldaten zu Gehorsam und Zielstrebigkeit im Feld befähigt, ist seine Disziplin. Dazu gehören: Respekt vor und Vertrauen zu seinen Vorgesetzten; Vertrauen zu seinen Kameraden und Angst vor ihren Vorwürfen und ihrer Vergeltung, wenn er sie in der Gefahr im Stich lässt; sein Wunsch, anderen zu folgen, ohne stärker als sie zu zittern; kurz, der gesamte esprit de corps. Allein Organisation kann diese Merkmale hervorbringen. Vier Männer kommen einem Löwen gleich.
Diese Ideen, die in den Mittelpunkt der Militärtheorie des 20. Jahrhunderts rücken sollten, wurden du Picq zum ersten Mal durch einen Brief deutlich, den er 1869 von einem Veteranen der Alma-Schlacht erhielt. Der Soldat hatte das entscheidende Eingreifen seines Kompaniekommandeurs geschildert, der die Panik seiner Männer beendete, nachdem ein hoher Offizier fälschlich mit einem Angriff der russischen Kavallerie gerechnet und dem Trompeter befohlen hatte, zum Rückzug zu blasen:
Zum Glück durchschaute ein besonnener Offizier, Hauptmann Daguerre, den groben Fehler und befahl mit Stentorstimme: »Vorwärts!« Dadurch gebot er dem Rückzug Einhalt und ließ uns erneut zum Angriff schreiten. Die Attacke brachte uns in den Besitz der Telegrafenleitung, und die Schlacht war gewonnen. Bei diesem zweiten Ansturm gaben die Russen auf, drehten sich um, und kaum einer von ihnen wurde mit dem Bajonett verwundet. Ein Major, der ein Bataillon kommandiert, lässt also ohne Befehl ein Trompetensignal blasen und gefährdet den Erfolg. Ein einfacher Hauptmann ruft »Vorwärts!« und entscheidet den Sieg. 26
Gegen 16.30 Uhr war die Schlacht vorbei. Die meisten Russen hatten sich in kleinen Gruppen, ohne Anführer und ohne klares Ziel, zum Fluss Katscha zurückgezogen. Viele Männer sollten erst nach Tagen wieder zu ihrem Regiment stoßen. Auf dem Telegrafenhügel erbeuteten die Franzosen die verlassene Kutsche von Fürst Menschikow, die ein paar Kosaken in Sicherheit bringen wollten. In der Kutsche fanden sie eine Feldküche, Briefe vom Zaren, 50 000 Franc, pornografische französische Romane, die Stiefel des Generals und etwas Damenunterwäsche vor. Hinzu kamen Picknickbestandteile, Sonnenschirme und Feldstecher, welche die Zuschauer aus Sewastopol zurückgelassen hatten. 27
Das Schlachtfeld selbst war mit Verwundeten und Toten bedeckt, darunter 2000 Briten, 1600 Franzosen und vielleicht 5000 Russen (die genauen Zahlen sind schwer festzustellen, da so viele Opfer einfach zurückgelassen wurden). Die Briten brauchten zwei volle Tage, um die Verwundeten zu bergen. Sie hatten auf den Schiffen aus Warna keine medizinische Ausrüstung mitgebracht – das Sanitätskorps mit seinen Karren, Wagen und Tragen befand sich noch in Bulgarien – , weshalb Ärzte das Nachschubamt um Militärfuhrwerke bitten mussten, mit denen sie die Verwundeten vom Schlachtfeld holen konnten. Der
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