Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
seltsam zu sehen«, schrieb er, »wie die Menschen ihr normales Leben fortsetzten – eine junge Frau war ruhig mit ihrem Kinderwagen unterwegs, Händler kauften und verkauften Waren, Kinder liefen herum und spielten auf den Straßen, obwohl sie von einem Schlachtfeld umgeben waren und jederzeit getötet werden konnten.« 3
In den Wochen vor der Invasion lebten die Leute so, als wären dies ihre letzten Tage. Man feierte unablässig, gab sich übermäßigem Alkoholkonsum und Glücksspiel hin, und die zahlreichen Prostituierten der Stadt machten Überstunden. Die Landungen der Alliierten hatten eine ernüchternde Wirkung, doch das Selbstvertrauen der Subalternoffiziere war ausgeprägt. Alle rechneten damit, dass die russische Armee die Briten und Franzosen besiegen würde. Sie brachten Trinksprüche zum Gedenken an 1812 aus. »Wir waren äußerst gespannt«, erinnerte sich Michail Botanow, ein junger Seekadett, »und wir hatten keine Angst vor dem Feind. Der Einzige unter uns, der unser Selbstbewusstsein nicht teilte, war der Befehlshaber eines Dampfschiffes, der, anders als wir, häufig im Ausland gewesen war und das Sprichwort ›Im Zorn ist keine Stärke‹ liebte. Die Ereignisse sollten zeigen, dass er weitsichtiger und besser über die wirkliche Sachlage informiert war als wir.« 4
Die Niederlage der russischen Streitkräfte an der Alma löste Panik bei der Zivilbevölkerung von Sewastopol aus. Die Menschen erwarteten, dass die Alliierten jeden Moment von Norden her angreifen konnten; sie waren verwirrt, als sie dann deren Flotten im Süden erblickten, und nahmen fälschlich an, sie seien umzingelt. »Ich kenne keinen, der in jenem Moment nicht ein Gebet sprach«, schrieb einer der Bewohner. »Wir alle dachten, der Feind würde bald durchbrechen.« Hauptmann Nikolai Lipkin, ein Batteriekommandeur der Vierten Bastion, teilte seinem Bruder in St. Petersburg Ende September mit:
Viele Bewohner sind bereits verschwunden, doch wir, die Soldaten, bleiben hier, um unseren ungebetenen Gästen eine Lektion zu erteilen. Drei Tage hintereinander (24., 25. und 26. September) fanden religiöse Prozessionen durch den Ort und durch sämtliche Batterien statt. Es war bewegend mitzuerleben, wie sich unsere Kämpfer, neben ihren Biwaks stehend, vor dem Kreuz und den Ikonen verbeugten, die von unseren Frauen getragen wurden … Die Schätze sind aus den Kirchen entfernt worden; ich hielt es nicht für nötig, aber die Menschen hören mir nicht mehr zu, alle haben Angst. Jeden Moment erwarten wir einen allgemeinen Angriff sowohl zu Lande als auch zu Wasser. Das also, mein Bruder, ist die Lage, und was als Nächstes geschehen wird, weiß nur der Herr.
Lipkin mochte zuversichtlich sein, doch die russischen Befehlshaber dachten nach der Schlacht an der Alma ernsthaft daran, Sewastopol aufzugeben. Acht Dampfer an der Nordseite warteten auf den Befehl, die Soldaten zu evakuieren, und zehn Kriegsschiffe an der Südseite sollten ihre Flucht decken. Viele Stadtbewohner suchten das Weite, als sich der Feind näherte, obwohl russische Einheiten ihnen den Weg versperrten. Die Wasservorräte in der Stadt wurden gefährlich knapp, denn die Quellen waren versiegt und die gesamte Bevölkerung war auf die Brunnen angewiesen, die zu dieser Jahreszeit stets unter Wassermangel litten. Nachdem die Briten und Franzosen von Deserteuren erfahren hatten, dass die Stadt aus Quellen und durch Rohre, die von den Anhöhen, auf denen die Alliierten lagerten, an einer Schlucht entlang mit Wasser versorgt wurde, hatten sie diese Zufuhr unterbunden, woraufhin Sewastopol nur noch das Aquädukt zur Marinewerft übrig blieb. 5
Während die Alliierten ihr Lager aufschlugen und den Beschuss der Stadt vorbereiteten, arbeiteten die Russen rund um die Uhr, um ihre Verteidigungsstellungen an der Südseite zu verstärken. Da Menschikow nirgendwo zu sehen war, ging die Hauptverantwortung für die Verteidigung von Sewastopol an drei Befehlshaber über: Admiral Kornilow, Stabschef der Schwarzmeerflotte, Totleben, den technischen Leiter, und Nachimow, den Helden von Sinope und Hafenkommandeur, der bei den Matrosen sehr beliebt war und als »einer von ihnen« galt. Alle drei Männer waren Berufsmilitärs eines neuen Typs, der sich stark von dem des Höflings Menschikow abhob. Ihre Energie war bemerkenswert. Kornilow inspirierte die Soldaten durch seine tägliche Präsenz in jedem Verteidigungssektor und versprach ihnen Belohnungen, wenn sie die Stadt hielten. Tolstoi, der
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