Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
lauschten Privatgesprächen, Predigten von Pfarrern und öffentlichen Reden und machten Meldungen an örtliche Staatsanwälte und Präfekten. Diesen Berichten zufolge hatten die Franzosen den Krieg nie befürwortet, und nachdem die Armee keinen raschen Sieg hatte erringen können, wurden sie zunehmend ungeduldig und kritisierten die Fortsetzung der Kampfhandlungen. Ihre Enttäuschung galt vor allem der Führerschaft von Canrobert und der »Feigheit« von Prinz Napoleon, der die Krim nach Inkerman verlassen hatte und im Januar nach Frankreich zurückgekehrt war. Dort biederte er sich bei den Kriegsgegnern an und tat seine Ansicht kund, dass Sewastopol »uneinnehmbar« sei und die Belagerung aufgegeben werden solle. Inzwischen meldeten die Präfekten, dass Kriegsmüdigkeit in Opposition gegen die Regierung umschlagen könne. Henri Loizillon, ein Ingenieur in den französischen Schützengräben vor Sewastopol, hörte, wie die Soldaten über eine Revolution mit Hilfe von Streiks und Demonstrationen gegen die Mobilmachung weiterer Einheiten in Frankreich sprachen. »Die beunruhigendsten Gerüchte gehen um«, schrieb er an seine Familie. »Man redet nur von Revolution: Paris, Lyon, alle Großstädte sollen belagert werden; in Marseille werden die Menschen gegen die Einschiffung der Soldaten rebellieren; alle wollen Frieden und scheinen bereit zu sein, fast jeden Preis dafür zu zahlen.« In Paris hatte der ungeduldige Kaiser zu Recht Angst vor revolutionärer Gewalt – schließlich waren Menschenmengen erst sechseinhalb Jahre zuvor auf die Barrikaden gegangen, um die Juli-Monarchie zu stürzen – und machte detaillierte Pläne, um mit weiteren Unruhen in der Hauptstadt fertig zu werden. Im Zentrum von Paris wurden Gebäude errichtet, »die in der Lage sein sollen, im Fall einer Erhebung eine gewisse Zahl von Soldaten aufzunehmen«, ließ er Königin Viktoria wissen. Außerdem wurden »fast alle Straßen [mit Schotter] gedeckt, damit die Bevölkerung nicht wie bisher zu Pflastersteinen greifen kann, ›pour en faire des barricades‹«. Um die Kritik am Krieg zu unterbinden, sei es an der Zeit, das Oberkommando strenger zu kontrollieren. Deshalb wolle er selbst zur Krim reisen, um die Einnahme Sewastopols zu beschleunigen und den Ruhm des Namens Napoleon wiederherzustellen. 36
In Russland gab es kaum öffentliche Informationen über den Krieg. Das gesamte Schwarzmeergebiet besaß nur eine einzige russische Zeitung, den Odessa-Boten ( Odesski westnik ), der jedoch keinen Korrespondenten auf der Krim hatte und nur die elementarsten Nachrichten über den Krieg – gewöhnlich mit zwei oder drei Wochen Verspätung – veröffentlichte. Die strikte Zensur beschränkte alles, was von der Presse gedruckt werden konnte. Zum Beispiel erschienen Berichte über die Schlacht an der Alma im Odessa-Boten erst am 12. Oktober, ganze 22 Tage nach dem Ereignis. Hier wurde die Niederlage beschrieben als »taktischer Rückzug unter Bedrohung durch eine viel größere Anzahl von Feinden an beiden Flanken und vom Meer her«. Als diese lakonische und unwahre Meldung dem Leserpublikum nicht genügte, das Gerüchte über den Fall von Sewastopol und die Zerstörung der Schwarzmeerflotte gehört hatte, brachte die Zeitung am 8. November, 49 Tage nach der Schlacht, einen detaillierteren Bericht, in dem man die Niederlage einräumte, doch kein Wort über die panische Flucht der russischen Soldaten oder über die Überlegenheit der feindlichen Gewehrschützen verlor, deren Feuerkraft jene der altmodischen Musketen der Infanterie des Zaren überwältigt hatte. 37 Der Öffentlichkeit durfte einfach nicht mitgeteilt werden, dass die russische Armee schlecht geführt worden war und dass sie technisch hinter den europäischen Heeren zurückstand.
Da das gebildete Publikum den offiziellen Informationen nicht trauen konnte, musste es sich auf Gerüchte verlassen. Eine in St. Petersburg lebende Engländerin bemerkte manche »lächerliche Vorstellung« über den Krieg bei der Oberschicht, die »durch alle Regierungsberichte völlig im Dunkeln gelassen« wurde. Beispielsweise munkelte man, dass Großbritannien versuche, Polen zu einem Krieg gegen Russland zu bewegen, dass Indien demnächst dem Russischen Reich zufallen werde und dass die Amerikaner den Russen auf der Krim helfen würden. Viele Bürger waren davon überzeugt, dass ein Militärabkommen mit den Vereinigten Staaten unterzeichnet worden sei. ***** »Sie schienen dem Präsidenten der Vereinigten
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