Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
Mittelstand und seinem Ideal der Meritokratie und der alten Welt aristokratischer Privilegien entwickelte.
Schließlich riss Raglan der Geduldsfaden, und am 4. Januar schrieb er erneut an Newcastle, um Russell im Grunde des Verrats zu bezichtigen:
Ich übergehe die Fehler, die der Autor allem und jedem anlastet, wie sehr seine Kritik auch darauf abzielen mag, Unzufriedenheit hervorzurufen und Disziplinlosigkeit auszulösen, aber ich bitte Euch zu berücksichtigen, ob der bezahlte Agent des Kaisers von Russland seinem Herrn besser dienen könnte als der Korrespondent der Zeitung, welche die höchste Auflage in Europa hat … Ich bezweifle sehr, ob eine britische Armee, nun, da das Fernmeldewesen so rasch arbeitet, angesichts eines mächtigen Feindes aufrechterhalten werden kann, wenn jener Feind durch die englische Presse und von London per Telegraf zu seinem Hauptquartier jedes erforderliche Detail über die Zahl, den Zustand und die Ausrüstung der Streitmacht seines Gegners einholen kann. 34
Newcastle war unbeeindruckt. Mittlerweile verspürte er bereits den politischen Druck der Times -Kampagne. Der Skandal um den Zustand der Armee bedrohte die Regierung. Der Kriegsminister schloss sich der wachsenden Kritik an der Militärverwaltung an und forderte Raglan auf, Quartiermeister Airey und Generaladjutant Estcourt zu entlassen, womit er hoffte, den Wunsch der Öffentlichkeit, dass Köpfe rollen müssten, zu befriedigen. Dazu war Raglan nicht bereit – er schien nicht zu glauben, dass ein Angehöriger des Oberkommandos die Schuld an den Problemen der Armee trug – , doch er akzeptierte bereitwillig die Ablösung von Lord Lucan, dem er (was höchst ungerecht war) die Schuld an der Opferung der Leichten Brigade gab.
Als Lucan am 12. Februar abberufen wurde, war die Regierung bereits durch die Macht der Presse und der öffentlichen Kritik gestürzt worden. Am 29. Januar hatten zwei Drittel des Unterhauses einen Antrag des radikalen Abgeordneten John Roebuck auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses unterstützt, der sich mit der Situation der Armee und dem Verhalten der für sie zuständigen Ministerien befassen sollte. Dies war im Grunde ein Misstrauensvotum gegen die Kriegführung des Kabinetts. Roebuck hatte die Regierung nicht stürzen wollen – sein Hauptziel war es gewesen, eine Lanze für die Rechenschaftspflicht gegenüber dem Parlament zu brechen – , aber der Druck auf die Regierung ging nun nicht mehr allein vom Parlament aus, sondern auch von der Öffentlichkeit und der Presse. Am folgenden Tag trat Aberdeen zurück, und eine Woche später, am 6. Februar, beauftragte die Königin den nun 70-jährigen Palmerston, den ihr am wenigsten genehmen Politiker, seine erste Regierung zu bilden. Palmerston war der populäre Kandidat der patriotischen Mittelschicht – durch seinen gezielten Umgang mit der Presse hatte er die britische Öffentlichkeit für sich gewonnen – , die seine aggressive Außenpolitik als kennzeichnend für ihren eigenen Nationalcharakter und ihre Ideale ansah und nun von ihm erwartete, dass er den Feldzug vor den inkompetenten Generalen rettete.
»In dem Stadium der Zivilisation, in dem wir uns heute befinden«, verkündete der französische Kaiser im Jahr 1855, »ist der Erfolg von Armeen, so brillant sie auch sein mögen, nur noch vergänglich. In Wirklichkeit ist es die öffentliche Meinung, die den letzten Sieg erringt.« Louis-Napoléon war sich der Macht der Presse und der öffentlichen Meinung sehr wohl bewusst, denn sein eigener Aufstieg war von ihnen abhängig gewesen, und aus diesem Grund wurde die französische Presse während des Krimkriegs von seiner Regierung zensiert und kontrolliert. Leitartikel wurden gewöhnlich von Anhängern der Regierung »bezahlt« und waren politisch oftmals weiter rechts, als es sich die meisten Leser der jeweiligen Zeitung gewünscht hätten. Napoleon sah den Krieg als Möglichkeit, allgemeine Unterstützung für sein Regime zu gewinnen, und warf bei der Kriegführung stets ein Auge auf die öffentliche Reaktion. So instruierte er Canrobert (der für seine Unschlüssigkeit bekannt war), keinen Angriff zu befehlen, »wenn er nicht völlig sicher sein könne, dass das Ergebnis günstig für uns ist, doch er solle den Versuch auch dann unterlassen, wenn die Opfer an Menschenleben hoch sein würden«. 35
Empfindlich für öffentliche Kritik, wies Napoleon seine Polizei an, Informationen über Meinungsäußerungen zum Krieg einzuholen. Spitzel
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