Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
keine türkische Druckerpresse; und noch 1853 gab es fünfmal mehr Jungen in Konstantinopel, die traditionelles islamisches Recht und islamische Theologie studierten, als solche, die moderne städtische Schulen mit einem weltlichen Lehrplan besuchten. 9
Der Stagnation der Wirtschaft entsprach die Wucherung der korrupten Bürokratie. Der Kauf von Ämtern für das lukrative Geschäft der Steuerpacht war in fast allen Provinzen verbreitet. Mächtige Paschas und Militärgouverneure beherrschten ganze Regionen wie persönliche Lehen und pressten ihnen so viele Steuern wie möglich ab. Solange sie einen Teil ihrer Einnahmen an die Hohe Pforte weiterleiteten und ihre eigenen Finanziers bezahlten, kümmerte sich niemand sonderlich um ihr willkürliches und gewalttätiges Vorgehen. Der Löwenanteil der Steuern des Reiches wurde den Nichtmuslimen abverlangt, die keinen juristischen Schutz genossen und keine Rechtsmittel einlegen konnten, denn die Aussage eines Christen galt an muslimischen Gerichtshöfen nichts. Man schätzt, dass der durchschnittliche christliche Bauer oder Händler im Osmanischen Reich Anfang des 19. Jahrhunderts die Hälfte seiner Einnahmen für Steuern aufbringen musste. 10
Der Schlüssel zum Verfall des Osmanischen Reiches war jedoch seine militärische Rückständigkeit. Die Türkei besaß im frühen 19. Jahrhundert ein großes Heer, das bis zu 70 Prozent der Staatsausgaben beanspruchte, doch es war den modernen Wehrpflichtarmeen Europas technisch unterlegen. Ihm fehlten eine zentralisierte Verwaltung, klare Befehlsstrukturen und effektive Militärakademien; es war schlecht ausgebildet und immer noch auf die Rekrutierung von Söldnern, Freischärlern und Stammesvertretern aus den Randgebieten des Reiches angewiesen. Eine Militärreform war unverzichtbar, was reformistische Sultane und ihre Minister einsahen, zumal nach den wiederholten Niederlagen gegen Russland, gefolgt vom Verlust Ägyptens an Napoleon. Aber der Aufbau einer modernen Wehrpflichtarmee erforderte eine radikale Umwandlung des Reiches, damit man die Kontrolle über die Provinzen zentralisieren und die Eigeninteressen der 40000 Janitscharen überwinden konnte. Diese besoldete Haushaltsinfanterie des Sultans repräsentierte die überholten Traditionen des militärischen Establishments und widersetzte sich sämtlichen Reformen. 11
Selim III . war der erste Sultan, der die Notwendigkeit erkannte, Heer und Marine zu verwestlichen. Seine Militärreformen wurden von den Franzosen gelenkt, die in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts den wichtigsten ausländischen Einfluss auf die Osmanen ausübten, hauptsächlich weil ihre Feinde (Österreich und Russland) auch die Feinde des Osmanischen Reiches waren. Selims Vorstellungen ließen sich mit der Verwestlichung der Institutionen Russlands vergleichen, die Peter der Große im frühen 18. Jahrhundert durchführte, und die Türken waren sich dieser Parallele bewusst. Dabei ging es um kaum mehr als die Übernahme neuer Technologien und Praktiken aus dem Ausland und keineswegs um die Aneignung westlicher kultureller Prinzipien, welche die Vormachtstellung des Islams im Reich gefährden konnten. Die Türken hatten die Franzosen unter anderem deshalb zu Rate gezogen, weil sie diese für die am wenigsten religiöse aller europäischen Nationen und deshalb für die geringste Bedrohung des Islams hielten – ein Eindruck, den sie aus der kirchenfeindlichen Politik der Jakobiner gewonnen hatten.
Selims Reformen scheiterten an den Janitscharen und dem muslimischen Klerus, die jeden Wandel ablehnten. Sie wurden jedoch von Mahmud II . (1808–1839) fortgesetzt, der die von Selim gegründeten Militärakademien ausbaute, um Offiziere leistungsgerecht befördern und so die Janitscharen schwächen zu können. Er setzte Reformen hinsichtlich der Uniformen durch, führte westliche Geräte ein und beseitigte die Lehnsgüter der Janitscharen, um ein zentralisiertes Heer europäischen Stils zu schaffen, mit dem die Leibwache des Sultans nach und nach verschmelzen würde. Als die Janitscharen 1826 gegen die Reformen rebellierten, wurden mehrere Tausend von ihnen durch die neue Armee des Sultans getötet, welcher anschließend die Truppe durch kaiserlichen Befehl auflöste.
Während das Reich des Sultans derart schwächelte, dass es vor dem unmittelbaren Zusammenbruch zu stehen schien, griffen die Großmächte immer häufiger in seine Angelegenheiten ein – vorgeblich, um die christlichen Minderheiten zu
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