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Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Titel: Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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war ein schlimmer Krawall – Menschen schrien, weinten, heulten, die Verwundeten stöhnten, und Granaten flogen durch die Luft.« Unablässig fielen Bomben auf den Hafen, und ein Volltreffer tötete acht alliierte Kriegsgefangene am überfüllten Kai. Soldaten, Pferde und Geschütze sollten die Brücke als Erste überqueren, gefolgt von Ochsenkarren, die mit Kanonenkugeln, Heuballen und Verwundeten beladen waren. Auf der Brücke herrschte Schweigen, denn niemand konnte sicher sein, die andere Seite zu erreichen. Das Meer war rau, der Nordwestwind blies immer noch heftig, und der Regen peitschte die Gesichter der Menschen auf dem Weg über den Seehafen. Die Zivilisten, die nur mitnehmen durften, was sie tragen konnten, bildeten eine Reihe. Unter ihnen war auch Tolytschewa:
    Auf der Brücke herrschte ein Gedränge – nichts als Verwirrung, Panik, Furcht! Die Brücke gab unter dem Gewicht von uns allen fast nach, und das Wasser erreichte unsere Knie. Plötzlich verlor jemand die Nerven und brüllte: »Wir ertrinken!« Manche drehten sich um und versuchten, zum Ufer zurückzukehren. In dem Gerangel trampelten Menschen übereinander hinweg, die Pferde erschraken und bäumten sich auf … Ich dachte, wir würden sterben, und sprach ein Gebet.
    Um acht Uhr am folgenden Morgen hatten alle die Brücke überquert. Die letzten Verteidiger wurden durch ein Signal angewiesen, die Bastionen zu verlassen und die Stadt in Brand zu stecken. Mit den wenigen noch zurückgebliebenen Geschützen versenkten sie die letzten Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte im Seehafen, bevor sie sich ebenfalls zur Nordseite aufmachten. 33
    Aus dem Sternfort beobachtete Tolstoi den Niedergang von Sewastopol. Während des Angriffs hatte er eine der Fünf-Kanonen-Batterien befehligt und war einer der letzten Verteidiger gewesen, welche die Pontonbrücke hinter sich ließen. Es war sein 27. Geburtstag, doch der Anblick, der sich ihm bot, brach ihm das Herz. »Ich habe geweint, als ich die Stadt in Flammen und französische Fahnen auf unseren Bastionen sah«, schrieb er seiner Tante, »und überhaupt war dieser Tag in vieler Hinsicht sehr traurig.« 34
    An jenem Morgen schaute auch Alexandra Stachowa, eine Krankenschwester, die bei der Räumung der Verwundeten aus Sewastopol half, auf die brennende Stadt zurück. Sie beschrieb die Szene am folgenden Tag in einem Brief an ihre Angehörigen:
    Die ganze Stadt war in Flammen gehüllt – von überall ertönten Explosionen. Es war ein Bild des Schreckens und des Chaos! … Eine schwarze Rauchdecke lag über Sewastopol, unsere eigenen Soldaten steckten die Stadt in Brand. Das Schauspiel ließ mir Tränen in die Augen steigen (ich weine selten), und dies minderte die Last auf meiner Seele, wofür ich Gott danke … Wie schwer es war, das alles zu erleben und zu sehen. Es wäre leichter gewesen zu sterben. 35
    Das Große Feuer von Sewastopol – gleichsam eine Wiederholung des Moskauer Feuers von 1812 – loderte mehrere Tage lang. Teile der Stadt brannten noch, als die alliierten Heere am 12. September einzogen. Sie fanden entsetzliche Szenen vor. Wegen des Mangels an Transportmitteln waren nicht alle Verwundeten aus Sewastopol herausgeschafft worden; ungefähr 3000 hatte man ohne Nahrung oder Wasser in der Stadt zurückgelassen. Dr. Gjubbenet, der für die Evakuierung der Krankenhäuser verantwortlich gewesen war, hatte erwartet, dass die Männer sehr bald von den Alliierten aufgefunden werden würden. Er konnte nicht ahnen, dass es vier Tage dauern sollte, bis der Feind die Stadt besetzte. Später las er zu seiner Bestürzung westliche Presseberichte wie den folgenden Times -Artikel von Russell:
    Von allen Bildern der Gräuel des Krieges, die der Welt je geboten wurden, lieferte das Krankenhaus von Sewastopol die herzzerreißendsten und abscheulichsten. Nachdem ich durch eine dieser Türen getreten war, bot sich mir ein Anblick, den wenige Menschen, Gott sei Dank, haben ertragen müssen: … die verfaulten und verwesenden Leichen der Soldaten, die man unter extremen Qualen hatte sterben lassen, unbehütet, unversorgt, so dicht aneinander gedrängt, wie man sie hatte verstauen können … gesättigt mit Blut, das auf den Fußboden sickerte und tröpfelte, wo es sich mit den Ausscheidungen der Fäulnis vermischte. Vielen, die noch lebendig dalagen, krochen Maden über die Wunden. Einige andere, nahezu wahnsinnig angesichts dessen, was um sie herum vorging, oder unter Todesqualen davor flüchtend, hatten sich

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