Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
er nicht über 20 000 Mann, sondern über weniger als die Hälfte, also keineswegs genug, um Murawjows Armee im Alleingang zu besiegen. Daher beschloss Selim Pascha, gar nicht erst den Versuch zu machen. Am 22. November überbrachte ein britischer Diplomat General Williams eine Note, aus der hervorging, dass Selim Paschas Heer nicht nach Kars kommen werde. Da nun jegliche Hoffnung geschwunden war, übergab Williams die Garnison an Murawjow, der verdienstvollerweise sicherstellte, dass die 4000 kranken und verwundeten türkischen Soldaten gut versorgt wurden, und der Lebensmittel an die 30 000 Soldaten und Zivilisten verteilen ließ, die er durch Aushungern zur Kapitulation getrieben hatte. 42
Nach der Einnahme von Kars kontrollierten die Russen mehr feindliches Territorium als die Alliierten. Alexander meinte, der Verlust von Sewastopol sei durch seinen Sieg bei Kars wettgemacht, und hielt dies für den richtigen Zeitpunkt, um bei Österreich und Frankreich wegen eines Friedens vorzufühlen. Ende November ergab sich ein direkter Kontakt zwischen Paris und St. Petersburg, als Graf Walewski, Napoleons Cousin und Außenminister, an Baron von Seebach, Nesselrodes Schwiegersohn, herantrat, der die russischen Interessen in der französischen Hauptstadt wahrnahm. Walewski sei »persönlich sehr aufgeschlossen« gegenüber Friedensgesprächen mit Russland, meldete Seebach seinem Schwiegervater, doch habe er zu bedenken gegeben, dass Napoleon »von seiner Furcht vor England beherrscht« werde und sein Bündnis mit London unbedingt aufrechterhalten wolle. Wenn Russland Frieden wünsche, müsse es Vorschläge machen – angefangen mit der Begrenzung der russischen Flottenstärke im Schwarzen Meer – , die es Frankreich ermöglichten, den britischen Widerwillen gegen Gespräche zu überwinden. 43
Das würde keine leichte Aufgabe sein. Nach dem Fall von Kars war die britische Regierung noch entschlossener, den Krieg fortzusetzen und ihn auf neue Schauplätze zu verlagern. Im Dezember diskutierte das Kabinett darüber, die Hälfte der Streitkräfte auf der Krim nach Trapezunt zu schicken, um einen potenziellen russischen Vormarsch von Kars nach Erzurum und Anatolien zu unterbinden. Operationspläne wurden vorbereitet, die der alliierte Kriegsrat im Januar erörtern sollte. Außerdem sprach man von einer großen neuen Kampagne in der Ostsee, wo die Zerstörung des Marinestützpunkts Sveaborg am 9. August den alliierten Führern vor Augen geführt hatte, was sich mit dampfgetriebenen Panzerschiffen und Ferngeschützen erreichen ließ. Außerhalb von Westminster herrschte nahezu Konsens darüber, dass der Fall von Sewastopol den Beginn eines größeren Krieges gegen Russland darstellen solle. Sogar Gladstone, ein energischer Befürworter des Friedens, musste einräumen, dass die britische Öffentlichkeit eine Beendigung des Krieges ablehnte. Die russlandfeindliche Presse forderte Palmerston auf, eine Frühjahrskampagne in der Ostsee einzuleiten. Sie verlangte die Zerstörung von Kronstadt, die Blockade von St. Petersburg und die Vertreibung der Russen aus Finnland. Russland solle keine Bedrohung mehr für die europäische Freiheit und die britischen Interessen im Vorderen Orient darstellen. 44
Palmerston und seine »Kriegspartei« hatten ihre eigene Agenda für einen umfassenden Kreuzzug gegen Russland. Sie ging weit über das ursprüngliche Kriegsziel – die Verteidigung der Türkei – hinaus, denn sie sah die permanente Eindämmung und Schwächung Russlands als eines imperialen Rivalen der Briten vor. »Das entscheidende und wirkliche Ziel des Krieges ist es, den aggressiven Ehrgeiz von Russland zu dämpfen«, hatte Palmerston am 25. September an Clarendon geschrieben. »Wir zogen nicht so sehr deshalb in den Krieg, um den Sultan und seine Muselmanen in der Türkei verweilen zu lassen, sondern um die Russen aus der Türkei herauszuhalten. Aber wir haben ein genauso starkes Interesse daran, die Russen nicht in Norwegen und Schweden Fuß fassen zu lassen.« Palmerston schlug vor, den Krieg im paneuropäischen Maßstab und in Asien fortzusetzen, »um die Macht Russlands einzudämmen«. Seiner Einschätzung nach würden die baltischen Staaten, wenn sie sich diesem erweiterten Krieg anschlossen, wie die Türkei » Teil einer langen Zirkumvallationslinie gegen die künftige Ausdehnung Russlands« werden. Palmerston behauptete, Russland sei »nicht halb so vernichtend wie nötig geschlagen worden«, und forderte, den Krieg
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