Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
besucht, und Mary Seacoles Hotel erfreute sich stürmischer Nachfrage. Verschiedene Amüsements dienten dem Zeitvertreib der Armee: Theater, Glücksspiel, Billard, Jagd und Pferderennen auf der Ebene, solange das Wetter es zuließ. Schiffsladungen von Touristen trafen aus Großbritannien ein, um die berühmten Schlachtstätten zu besichtigen und Souvenirs zu sammeln: ein russisches Gewehr oder Schwert oder einen Uniformfetzen, geplündert von den Leichen der Russen, die nach der Einnahme Sewastopols wochen- und sogar monatelang in den Schützengräben liegen blieben. »Nur die Engländer konnten auf solche Ideen kommen«, bemerkte ein französischer Offizier, der über die morbiden Marotten der Kriegstouristen erstaunt war. 58
Gegen Ende Januar, als die Nachricht vom bevorstehenden Frieden eintraf, begannen die alliierten Soldaten immer häufiger mit den Russen zu fraternisieren. Prokofi Podpalow, der junge Mann, der an der Verteidigung des Redan teilgenommen hatte, gehörte zu den Russen, die an der Tschornaja lagerten, der Stätte der blutigen Schlacht vom August. »Täglich gingen wir freundschaftlicher mit den französischen Soldaten am anderen Flussufer um«, berichtete er. »Unsere Offiziere ermahnten uns, höflich zu ihnen zu sein. Gewöhnlich gingen wir zum Fluss und warfen ihnen ein paar Dinge hinüber (der Fluss war nicht breit): Kreuze, Münzen und so weiter; die Franzosen warfen uns Zigaretten, Lederbörsen, Messer, Geld zu. Und so sprachen wir miteinander: Die Franzosen sagten: ›Russki camarade!‹, und die Russen: ›Frantschi Brüder!‹« Irgendwann wagten die Franzosen, den Fluss zu überqueren und die Russen in deren Lager zu besuchen. Man trank und aß gemeinsam, sang einander Lieder vor und verständigte sich in Zeichensprache. Die Besuche wurden zu regelmäßigen Ereignissen. Eines Tages ließen die Franzosen Karten mit ihren Namen und Regimentern zurück und luden die Russen ihrerseits zu sich ein. Nach ein paar Tagen beschlossen Podpalow und mehrere seiner Kameraden, das französische Lager aufzusuchen. Sie waren verblüfft über den Anblick. »Überall war es sauber und ordentlich; an den Zelten der Offiziere wuchsen sogar Blumen«, erinnerte sich Podpalow. Die Russen machten ihre Freunde ausfindig und tranken in deren Zelten Rum mit ihnen. Danach begleiteten die französischen Soldaten ihre Gäste zurück zum Fluss, umarmten sie mehrmals und luden sie zu einem neuen Besuch ein. Eine Woche später begab sich Podpalow allein ins französische Lager, konnte seine Freunde jedoch nicht entdecken. Man teilte ihm mit, sie seien nach Paris abgereist. 59
* Um der Fahnenflucht vorzubeugen, hatten die russischen Offiziere ihre Männer gewarnt, dass man ihnen, wenn sie zum Feind überliefen, die Ohren abschneiden und sie den Türken übergeben würde (deren militärischer Brauch es war, sich für abgetrennte Ohren eine Belohnung auszahlen zu lassen). Aber auch das hatte die Russen nicht daran gehindert, in großer Zahl zu desertieren.
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Paris und die neue Ordnung
Der Friedenskongress sollte am Nachmittag des 25. Februar im französischen Außenministerium am Quai d’Orsay beginnen. Schon am Mittag hatte sich eine große, aufgeregte Zuschauermenge am Quai versammelt, um sich die Ankunft der Delegierten anzusehen. Die Menge, die sich von der Pont de la Concorde zur rue d’Iéna erstreckte, musste von Infanteristen und Gendarmen zurückgedrängt werden, damit die Kutschen der ausländischen Würdenträger vorbeifahren und vor den gerade vollendeten Gebäuden des Außenministeriums halten konnten. Die Delegierten erschienen ab 13 Uhr, und jeder wurde mit » Vive la paix !« - und »Vive l’Empereur !« -Rufen begrüßt, wenn er ausstieg und das Ministerium betrat. Mit Gehröcken bekleidet, kamen die Delegierten in dem prächtigen Botschaftersaal zusammen, wo man einen großen runden Tisch, überzogen mit grünem Samt und von zwölf Sesseln umgeben, für die Konferenz aufgestellt hatte. Der Saal diente als Vorzeigeobjekt für das Kunstgewerbe des Second Empire. Purpurrote Satinvorhänge hingen an den Wänden. Die einzigen Bilder waren lebensgroße Porträts von Napoleon III . und Kaiserin Eugénie, deren gebieterische Miene die Delegierten ständig an die neue Position Frankreichs als Schiedsrichter für internationale Angelegenheiten erinnerte. Auf einer Konsole am Kamin stand eine Marmorbüste Napoleons I., der mehr als vierzig Jahre lang in Diplomatenkreisen Persona non grata gewesen war. Der
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