Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
Territorien zu gestalten, um ein chaotisches Gerangel, womöglich mit nationalen Revolutionen und einem Kontinentalkrieg, zu vermeiden, wenn das Reich des Sultans schließlich zusammenbrach. Er unterstrich Peel und Aberdeen gegenüber seine feste Überzeugung, dass das Osmanische Reich bald zusammenstürzen werde und dass Russland und Großbritannien gemeinsame Pläne für diese Eventualität schmieden sollten, schon um zu verhindern, dass die Franzosen Ägypten und das östliche Mittelmeergebiet an sich brachten – eine Sorge, die damals das britische Denken beherrschte. Wie der Zar Peel mitteilte:
Ich will nicht einen Zoll von der Türkei, aber ich will auch nicht erlauben, daß ein Anderer einen Zoll davon bekomme …
Jetzt kann man nicht darüber stipuliren, was aus der Türkei, wenn sie todt, gemacht werden solle. Solche Stipulationen würden ihren Tod beschleunigen. Daher werde ich alles aufbieten den Status quo zu erhalten.
Aber man muß den möglichen eventuellen Fall ehrlich und vernünftig ins Auge fassen, man muß zu verständigen Erwägungen, zu aufrichtiger, redlicher Einigung kommen. 11
Peel und Aberdeen räumten ein, dass man für die mögliche Teilung des Osmanischen Reiches vorausplanen müsse, doch erst wenn sich die Notwendigkeit ergebe, und das sei für sie noch nicht der Fall. Ein Geheimmemorandum mit den Schlussfolgerungen aus den Gesprächen wurde von Brunow aufgesetzt und von Nikolaus und Aberdeen akzeptiert (wenn auch nicht unterzeichnet).
Der Zar verließ England in der festen Überzeugung, dass es in seinen Begegnungen mit Peel und Aberdeen zu politischen Absichtserklärungen gekommen sei und dass er sich nun auf eine Partnerschaft mit Großbritannien einstellen könne, die einen koordinierten Plan, wann immer erforderlich, für die Teilung des Osmanischen Reiches vorsah, um die Interessen der beiden Mächte zu wahren. Dies war keine unbegründete Vermutung, denn schließlich wurden seine Bemühungen in London durch ein Geheimmemorandum belegt. In Wirklichkeit aber war es ein fataler Irrtum von ihm zu glauben, er habe mit der britischen Regierung ein »Gentlemen’s Agreement« über die Orientalische Frage geschlossen. Die Briten betrachteten die Gespräche lediglich als Meinungsaustausch über beide Mächte interessierende Fragen und nicht als offiziell bindend. Nikolaus glaubte, es komme nur auf den Standpunkt der Königin und ihrer obersten Minister an, und so unterschätzte er den Einfluss des Parlaments, der Oppositionsparteien, der öffentlichen Meinung und der Presse auf die Außenpolitik der britischen Regierung. Dieses Missverständnis sollte eine entscheidende Rolle für die diplomatischen Fehler spielen, die Nikolaus im Vorfeld des Krimkriegs beging.
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Der Besuch des Zaren in London konnte das britische Misstrauen gegenüber Russland, das sich seit Jahrzehnten angestaut hatte, nicht zerstreuen. Trotz der Tatsache, dass die russische Bedrohung britischer Interessen minimal war und dass die Handels- und diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern in den Jahren vor dem Krimkrieg unproblematisch erschienen, dürfte die Russophobie das ausgeprägteste und hartnäckigste Element der britischen Einstellung zur Außenwelt gewesen sein. Überall in Europa wurde die Einschätzung Russlands in erster Linie durch Ängste und Fantasien bestimmt, und in diesem Sinne bildete Großbritannien keine Ausnahme. Die rasche Gebietsexpansion des Russischen Reiches im 18. Jahrhundert und die Demonstration seiner Militärmacht gegen Napoleon hatten einen tiefen Eindruck in der europäischen Psyche hinterlassen. Im frühen 19. Jahrhundert kam es zu einer Flut europäischer Publikationen – Streitschriften, Reiseberichte und politische Abhandlungen – über »die russische Bedrohung« für den Kontinent. Sie wurde im selben Maße durch die Vorstellung verursacht, dass eine asiatische »andersartige« Macht die Freiheiten und die Kultur Europas gefährdete, wie durch irgendeine reale oder wahrzunehmende Bedrohung. Das Klischee Russlands, das aus diesen überspannten Schriften hervorging, war das einer brutalen Macht, die von Natur aus aggressiv und expansionistisch, doch auch hinreichend verschlagen und betrügerisch war, um sich mit »unsichtbaren Kräften« gegen den Westen zu verschwören und um andere Gesellschaften zu infiltrieren. **
Die dokumentarische Basis dieser »russischen Bedrohung« lieferte das sogenannte Testament Peters des Großen, das russlandfeindliche
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