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Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Titel: Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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Schriftsteller, Politiker, Diplomaten und Militärs weithin als augenscheinlichen Beweis für die Ambitionen Russlands zur Beherrschung der Welt zitierten. Peters Ziele in diesem Dokument wirkten größenwahnsinnig: Angeblich wollte er Russland an der Ostsee und am Schwarzen Meer ausweiten, sich mit den Österreichern verbünden, um die Türken aus Europa zu vertreiben, die Levante erobern und den Handel mit Vorder- und Hinterindien kontrollieren, Zwietracht und Verwirrung in Europa säen und sich zum Gebieter des europäischen Kontinents aufwerfen.
    Das »Testament« war eine Fälschung. Verschiedene polnische, ungarische und ukrainische Personen, die mit Frankreich und den Osmanen verbunden waren, schufen es irgendwann Anfang des 18. Jahrhunderts, und es durchlief mehrere Entwürfe, bevor die endgültige Version in den sechziger Jahren ins Archiv des französischen Außenministeriums gelangte. Aus politischen Gründen waren die Franzosen geneigt, an die Echtheit des »Testaments« zu glauben, denn all ihre Hauptverbündeten in Osteuropa (Schweden, Polen und die Türkei) waren durch Russland geschwächt worden. Die Überzeugung, wonach das »Testament« die russischen Ziele widerspiegele, bildete die Grundlage der Außenpolitik Frankreichs im 18. und frühen 19. Jahrhundert. 12
    Napoleon I. ließ sich besonders stark durch das »Testament« beeinflussen. Seine höchsten Berater zitierten dessen Ideen und Formulierungen ausgiebig und behaupteten, mit den Worten von Charles Maurice de Talleyrand, dem Außenminister während des Direktoriums und des Konsulats (1795–1804), dass »das gesamte System [des Russischen Reiches], an das man sich seit Peter I. ständig hält … , darauf angelegt ist, Europa erneut durch eine Flut von Barbaren zu überschwemmen«. Solche Vorstellungen wurden noch deutlicher von Alexandre d’Hauterive vorgebracht, einem maßgeblichen Mann im Außenministerium, der das Vertrauen von Bonaparte genoss:
    In Zeiten des Krieges strebt Russland danach, seine Nachbarn zu besiegen; in Zeiten des Friedens strebt es danach, nicht nur seine Nachbarn, sondern sämtliche Länder der Welt in einen Zustand der Verwirrung aus Misstrauen, Aufruhr und Zwietracht zu zwingen … Man weiß sehr gut, was diese Macht in Europa und Asien usurpiert hat. Sie versucht, das Osmanische Reich zu zerstören; sie versucht, das Deutsche Reich zu zerstören. Russland bewegt sich nicht direkt auf sein Ziel zu …, sondern es untergräbt die Grundlagen [des Osmanischen Reiches] auf hinterhältige Art; es schürt Intrigen; es fördert Rebellion in den Provinzen … Gleichzeitig hört es nicht auf, die wohlwollendsten Gefühle für die Hohe Pforte zu bekunden; es bezeichnet sich stets als Freund, als Beschützer des Osmanischen Reiches. Auf ähnliche Weise wird Russland … das Haus Österreich angreifen … Dann wird es keinen Wiener Hof [sic!] mehr geben; dann werden wir, die westlichen Nationen, eine der Schranken verloren haben, die uns am ehesten vor den Überfällen Russlands schützen kann. 13
    Das »Testament« wurde von den Franzosen 1812 – im Jahr ihres Einmarsches in Russland – veröffentlicht, und fortan vervielfältigte und zitierte man es in ganz Europa als schlüssigen Beweis für die expansionistische russische Außenpolitik. Vor jedem Krieg, in den Russland auf dem europäischen Kontinent verwickelt war – 1854, 1878, 1914 und 1941 – , veröffentlichte man es erneut, und während des Kalten Krieges diente es dazu, die aggressiven Absichten der Sowjetunion zu erläutern. Während der sowjetischen Invasion in Afghanistan von 1979 zogen der Christian Science Monitor , die Zeitschrift Time und das britische Unterhaus den Text heran, um die Ursprünge der Moskauer Ziele zu verdeutlichen. 14
    Nirgends war sein Einfluss offensichtlicher als in Großbritannien, wo irrationale Ängste vor der russischen Bedrohung – und nicht bloß im Hinblick auf Indien – zum journalistischen Alltag gehörten. »Die Russen hegen seit langem eine sehr allgemeine Überzeugung, wonach sie berufen sind, die Herrscher der Welt zu werden, und dieser Gedanke kommt mehrfach in Veröffentlichungen in der russischen Sprache zum Ausdruck«, verkündete der Morning Chronicle im Jahr 1817. Sogar seriöse Zeitschriften erlagen der Ansicht, dass der Sieg über Napoleon Russland den Weg zur potenziellen Beherrschung der Welt bereitet habe. Im Rückblick auf die Ereignisse der vorangegangenen Jahre schrieb die Edinburgh Review 1817, dass es

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