Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
»viel weniger extrem erschienen wäre, den Einzug eines russischen Heeres in Delhi oder gar Kalkutta vorherzusagen als seinen Einzug in Paris«. 15 Die britischen Ängste wurden durch die laienhaften Meinungen und Eindrücke von Reiseschriftstellern über Russland und den Orient gestützt – von Vertretern eines literarisches Genres, das im frühen 19. Jahrhundert einen gewissen Boom erlebte. Diese Reisebücher wirkten sich nicht nur maßgebend auf die öffentliche Wahrnehmung Russlands aus, sondern sie lieferten auch einen großen Teil der Grundkenntnisse, mit denen Whitehall seine Politik gegenüber jenem Land gestaltete.
Einer der frühesten und umstrittensten derartigen Reiseberichte war A Sketch of the Military and Political Power of Russia in the Year 1817 von Sir Robert Wilson, einem ehemaligen Soldaten der Napoleonischen Kriege, der kurzfristig als Verbindungsoffizier in der russischen Armee gedient hatte. Wilson stellte eine Reihe übertriebener Behauptungen auf, die sich weder beweisen noch widerlegen ließen. Allerdings präsentierte er sie als das Ergebnis seines Insiderwissens über die zaristische Regierung: Russland sei entschlossen, die Türken aus Europa zu vertreiben, Persien zu erobern, nach Indien zu marschieren und die Weltherrschaft zu übernehmen. Wilsons Spekulationen waren so übertrieben, dass man sich hier und da über sie lustig machte (die Times schrieb, Russland könne womöglich zum Kap der Guten Hoffnung, zum Südpol und zum Mond vorstoßen), aber dafür garantierten die extremen Thesen seinem Pamphlet Aufmerksamkeit, und es wurde weithin diskutiert und rezensiert. Die Edinburgh Review und die Quarterly Review – die in Regierungskreisen am häufigsten gelesenen und angesehensten Zeitschriften – stimmten darin überein, dass Wilson die unmittelbare Bedrohung durch Russland überzeichnet habe, lobten ihn jedoch trotzdem für die Beschäftigung mit dem Thema und meinten, dem russischen Verhalten gebühre in Zukunft die »gründliche Prüfung des Misstrauens«. 16 Mit anderen Worten, die allgemeine Prämisse von Wilsons extremen Aussagen – dass der russische Expansionismus eine Gefahr für die Welt sei – müsse nun akzeptiert werden.
Von diesem Zeitpunkt an ging die fiktive russische Bedrohung als Realität in den politischen Diskurs Großbritanniens ein. Die Idee, dass Russland Pläne für die Überwältigung des Vorderen Orients und möglicherweise für die Eroberung des Britischen Empire schmiede, erschien regelmäßig in Streitschriften, die in den dreißiger und vierziger Jahren ihrerseits von russophoben Propagandisten als objektive Belege angeführt wurden.
Die einflussreichste dieser Schriften war das bereits behandelte On the Designs of Russia , in dem der künftige Krimkriegbefehlshaber George de Lacey Evans erstmals die von den russischen Aktivitäten in Kleinasien herrührende Gefahr darstellte. Das Pamphlet war indes noch aus einem anderen Grund beachtenswert, denn darin erläuterte de Lacey Evans den frühesten detaillierten Plan für die Zerstückelung des Russischen Reiches – ein Vorhaben, welches das Kabinett während des Krimkriegs erneut aufgreifen sollte. Er befürwortete einen Präventivkrieg gegen Russland, um dessen aggressiven Absichten Einhalt zu gebieten. Dazu schwebten ihm Angriffe in Polen, Finnland, am Schwarzen Meer und im Kaukasus vor, wo die Russen am verwundbarsten waren. Sein Acht-Punkte-Plan liest sich fast wie ein Entwurf der umfassenderen britischen Ziele gegenüber Russland während des Krimkriegs:
1.Man unterbinde den Handel mit Russland, damit die Adligen ihre Gewinne einbüßen und sich gegen die zaristische Regierung wenden.
2.Man zerstöre die Flottendepots in Kronstadt, Sewastopol etc.
3.Man lanciere eine Reihe »räuberischer und angemessen unterstützter Überfälle an seinen Meeresgrenzen, besonders am Schwarzen Meer, wo es an den Küsten und sogar in der Etappe hinter seinen Militärposten eine Vielzahl ungebändigter, bewaffneter, unbezähmbarer im Gebirge lebender Feinde hat … «
4.Man helfe den Persern, den Kaukasus zurückzugewinnen.
5.Man entsende ein großes Korps und eine Flotte zum Finnischen Meerbusen, »um die Flanken und die Reserven der russischen Heere in Polen und Finnland zu bedrohen«.
6.Man finanziere Revolutionäre, damit diese »Aufstände und einen Leibeigenenkrieg anzetteln«.
7.Man bombardiere St. Petersburg, »wenn das praktikabel ist«.
8.Man entsende Heere nach Polen und Finnland, »um diese
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