Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
der muslimischen Herrschaft in Europa einnehmen könnten, »würde ein edler Triumph durch die Kultur des neunzehnten Jahrhunderts erzielt werden«. Viele Angehörige der Koalitionsregierung von Lord Aberdeen, darunter Russell und Schatzkanzler William Gladstone, hatten Zweifel daran, dass es angemessen war, das Osmanische Reich zu stützen, während Christen von den Türken verfolgt wurden. Andere hingegen engagierten sich für die Tanzimat-Reformen und wollten ihnen Zeit verschaffen, damit sie ihre Wirkung entfalten konnten. Eine Verzögerung kam den Briten in jedem Fall zustatten, da sie zwischen den Russen und den Franzosen, denen sie gleichermaßen misstrauten, in der Klemme saßen. »Die Russen werfen uns vor, zu französisch zu sein«, bemerkte die scharfsinnige Königin Viktoria, »und die Franzosen werfen uns vor, zu russisch zu sein.« Das Kabinett wies die Meinung des Zaren zurück, wonach ein osmanischer Zusammenbruch bevorstehe, und vereinbarte, keine Pläne für hypothetische Fälle zu schmieden – ein Entschluss, der für sich genommen den Untergang des Osmanischen Reiches beschleunigen konnte, indem er christliche Aufstände und entsprechende Repressionen durch die Türken auslöste. Das Beharren des Zaren auf einem baldigen osmanischen Kollaps ließ in Westminster sogar den Verdacht aufkommen, dass er genau diese Entwicklung plane und durch sein Vorgehen beschleunigen wolle. So notierte Seymour am 21. Februar über sein Gespräch mit dem Zaren: »Kaum etwas anderes kommt in Frage, als dass der Souverän, der das baldige Schicksal eines Nachbarstaats mit einer solchen Hartnäckigkeit vorhersagt, bei sich beschlossen haben muss, dass die Stunde für dessen Auflösung bevorsteht.« 9
In seinen späteren Unterredungen mit Seymour wurde Nikolaus vertraulicher und enthüllte noch mehr von seinen Teilungsplänen. Er sprach davon, die Türkei, wie zuvor Polen, zu einem Vasallenstaat zu machen und den Donaufürstentümern, Serbien und Bulgarien Unabhängigkeit unter russischer Protektion zu gewähren; außerdem behauptete er, sich auf Österreich verlassen zu können. »Sie müssen verstehen«, erklärte er Seymour, »dass ich, wenn ich von Russland spreche, mich gleichzeitig auch auf Österreich beziehe. Was dem einen passt, passt auch dem anderen. Unsere Interessen hinsichtlich der Türkei sind völlig identisch.« Seymour dagegen war von den »voreiligen und tollkühnen« Plänen des Zaren, der bereit zu sein schien, alles für einen Krieg gegen die Türkei aufs Spiel zu setzen, zunehmend abgestoßen und erklärte sie mit dem Hochmut der autokratischen Macht, der sich im Lauf von fast dreißig Jahren angesammelt habe. 10
Die Zuversicht des Zaren beruhte gewiss auch auf seinem Missverständnis, er werde von der britischen Regierung unterstützt. Er glaubte, 1844 eine freundschaftliche Beziehung zu Lord Aberdeen geknüpft zu haben. Damals war Aberdeen, mittlerweile Premierminister und so prorussisch wie kein anderer führender Politiker in Großbritannien, Außenminister gewesen. Nikolaus ging davon aus, dass Aberdeens Übereinstimmung mit der russischen Position im Streit um das Heilige Land auch bedeutete, dass die Briten seine Teilungspläne akzeptierten. In einer Depesche aus London teilte der russische Botschafter Baron Brunow dem Zaren Anfang Februar mit, Aberdeen habe vertraulich bemerkt, dass die osmanische Regierung die schlechteste der Welt sei und dass die Briten wenig Neigung verspürten, ihr noch länger beizustehen. Dieser Bericht ermutigte Nikolaus, noch offener mit Seymour zu reden und (in dem Glauben, dass er sich nicht mehr vor einem anglofranzösischen Bündnis zu fürchten brauche) im Frühjahr 1853 einen aggressiveren Standpunkt gegenüber Franzosen und Türken zu beziehen. 11 Er ahnte nicht, dass Aberdeen in seinem eigenen Kabinett im Hinblick auf die Orientalische Frage immer stärker isoliert war und dass die britische Politik generell dabei war, sich gegen Russland zu wenden.
Um den Sultan zu zwingen, die Rechte Russlands an den heiligen Stätten wiederherzustellen, schickte der Zar im Februar 1853 seinen persönlichen Gesandten nach Konstantinopel. Die Wahl des Gesandten war wohldurchdacht und schon für sich genommen ein Beweis für Nikolaus’ militante Absichten. Statt sich für einen bewährten Diplomaten zu entscheiden, der den Frieden hätte fördern können, gab der Zar einem Soldaten mit beängstigendem Ruf den Vorzug. Fürst Alexander Menschikow war 65 Jahre alt, er
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