Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
in einem Verteidigungskrieg zu besetzen brauchten, und schon würden sich die Balkanslawen erheben und die Türken zwingen, auf die Forderungen des Zaren einzugehen. Er sprach davon, die Fürstentümer nötigenfalls für mehrere Jahre einzunehmen, und behauptete, mit Hilfe russischer Propaganda ließen sich nicht weniger als 50000 christliche Soldaten für das Heer des Zaren auf dem Balkan rekrutieren – genug, um die Westmächte am Einschreiten zu hindern und die Österreicher zumindest zu neutralisieren. In einem Memorandum an den Zaren von Anfang April umriss Paskewitsch seine Vorstellung von dem Religionskrieg, der sich beim Vormarsch der russischen Soldaten auf dem Balkan entfalten werde:
Die Christen der Türkei sind aus kriegerischen Stämmen, und wenn Serben und Bulgaren friedlich geblieben sind, dann nur deshalb, weil sie die türkische Herrschaft in ihren Dörfern noch nicht gespürt haben … Doch ihr Kampfgeist wird durch die ersten Zusammenstöße zwischen Christen und Muslimen geweckt werden, sie dürften sich nicht mit den Gräueltaten abfinden, welche die Türken in ihren Dörfern begehen werden … wenn unsere Heere den Krieg beginnen. Es gibt kein Dorf, vielleicht keine Familie ohne unterdrückte Christen … die bereit sind, sich unserem Kampf gegen die Türken anzuschließen … Wir werden eine Waffe haben, die das Türkische Reich einstürzen lässt. 21
Gegen Ende Juni befahl der Zar seinen beiden Heeren in Bessarabien, den Pruth zu überschreiten, um die Moldau und die Walachei zu besetzen. Paskewitsch hoffte immer noch, dass der Einmarsch in die Fürstentümer zu keinem europäischen Krieg führen werde, sorgte sich jedoch, dass der Zar einen solchen Konflikt nicht scheuen würde, wie er General Gortschakow, dem Befehlshaber der russischen Streitkräfte, am 24. Juni erklärte. Die Soldaten des Zaren marschierten nach Bukarest, wo ihr Oberkommando ein Hauptquartier einrichtete. In jeder Stadt hängte man Kopien einer Erklärung Nikolaus’ auf, in der es hieß, Russland habe es nicht auf Gebietsgewinne abgesehen und besetze die Fürstentümer nur als »Garantie« dafür, dass die osmanische Regierung auf seine religiösen Beschwerden eingehe. »Wir sind bereit, unsere Soldaten anzuhalten, wenn die Pforte die unverletzlichen Rechte der orthodoxen Kirche gewährleistet. Wenn sie sich jedoch weiterhin widersetzt, werden wir, mit Gott an unserer Seite, vorrücken und für unseren wahren Glauben kämpfen.« 22
Die Besatzungstruppen verstanden wenig von dem Disput im Heiligen Land. »Wir dachten an nichts, wir wussten nichts. Wir ließen unsere Kommandeure für uns denken und taten, was sie uns befahlen«, erinnerte sich Teofil Klemm, ein Teilnehmer am Donaufeldzug. Klemm war knapp achtzehn Jahre alt, ein des Lesens und Schreibens kundiger Leibeigener, der in Krementschug in der Ukraine für die Offiziersausbildung abgeordnet worden war, als man ihn 1853 zur Infanterie einberief. Klemm war unbeeindruckt von den panslawistischen Schriften, die weithin bei den Soldaten und Offizieren des 5. Armeekorps zirkulierten. »Keiner von uns interessierte sich für solche Ideen«, schrieb er. Aber wie jeder russische Soldat zog Klemm mit einem Kreuz um den Hals in die Schlacht und war der Meinung, für Gott zu kämpfen. 23
Die russische Armee setzte sich aus Bauern zusammen – Leibeigene und Staatsbauern waren die Hauptgruppen, die der Wehrpflicht unterlagen – , und darin bestand ihr größtes Problem. Mit über einer Million Infanteristen, einer Viertelmillion Irregulären (vornehmlich Kosakenkavallerie) und einer Dreiviertelmillion Reservisten in speziellen Militärsiedlungen war sie die mit Abstand größte Armee der Welt. Aber nicht einmal diese hohe Zahl genügte, um die ungeheuren Grenzen Russlands zu verteidigen. Diese wiesen etliche Schwachpunkte auf, etwa die Ostseeküste, Polen oder den Kaukasus, und man konnte nicht noch mehr Männer rekrutieren, ohne die Leibeigenenwirtschaft zu schädigen und Bauernaufstände auszulösen. Die Schwäche der Bevölkerungsbasis im europäischen Russland – dessen Territorium die Größe des übrigen Europa, jedoch weniger als ein Fünftel seiner Einwohner hatte – wurde noch dadurch verschärft, dass sich die Leibeigenen in der zentralen Agrarzone zusammenballten, also fern von den Grenzen des Reiches, wo die Armee im Kriegsfall in kürzester Zeit gebraucht wurde. Ohne Eisenbahnen dauerte es Monate, Leibeigene einzuziehen und zu Fuß oder auf Karren zu ihren
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