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Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)

Titel: Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orlando FIGES
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Regimentern zu schicken. Schon vor dem Krimkrieg war das russische Heer überstrapaziert. Praktisch alle wehrpflichtigen Leibeigenen waren eingezogen worden, und die Eignung der Rekruten hatte sich erheblich gemindert, da Landbesitzer und Dörfer, die ihre letzten fähigen Bauern unbedingt behalten wollten, weniger tüchtige Männer zum Militär schickten. Aus einem Bericht von 1848 ging hervor, dass man bei den letzten Einberufungen ein Drittel der Wehrpflichtigen abgelehnt hatte, da sie die Mindestgröße (lediglich 160 Zentimeter) nicht erreichten; die Hälfte war zudem wegen chronischer Krankheit oder anderer physischer Mängel untauglich. Die Personalknappheit der Armee hätte nur dann behoben werden können, wenn man die Wehrpflicht erweitert und ein europäisches Modell des allgemeinen Militärdienstes eingeführt hätte, doch dies wäre das Ende der Leibeigenschaft gewesen, der Grundlage des Gesellschaftssystems, an dem die Aristokratie um jeden Preis festhalten wollte. 24
    Trotz zwei Jahrzehnten der Reform blieb das russische Militär weit hinter den Armeen der anderen europäischen Staaten zurück. Das Offizierskorps erwies sich als schlecht ausgebildet, und fast alle Soldaten waren Analphabeten. Offizielle Zahlen aus den 1850er Jahren zeigen, dass in einer Gruppe von sechs Divisionen mit ungefähr 120 000 Mann gerade mal 264 (0,2 Prozent) lesen oder schreiben konnten. Das Ethos der Armee wurde von der im 18. Jahrhundert herrschenden Exerzierplatzkultur des Zarenhofes bestimmt. Beispielsweise schrieb Karl Marx: »So hat er [Nikolaus] ausschließlich reine Exerzierpedanten befördert, deren wesentliche Vorzüge in stumpfem Gehorsam und beflissener Unterwürfigkeit sowie in einem scharfen Blick für Inkorrektheiten an Uniformknöpfen und Uniformknopflöchern bestehen.« Man legte mehr Nachdruck auf Drill und das Äußere der Soldaten als auf ihre Gefechtstüchtigkeit. Sogar während der Kämpfe waren komplizierte Vorschriften für die Körperhaltung, die Schrittlänge, die Aufstellung und Bewegung der Infanteristen zu beachten. All das wurde in Armeehandbüchern dargelegt, die überhaupt nichts mit den wirklichen Bedingungen auf dem Schlachtfeld zu tun hatten:
    Wenn eine Schlachtordnung vorrückt oder zurückweicht, ist es notwendig, eine allgemeine Anordnung der Bataillone in jeder Linie sowie die Intervalle zwischen den Bataillonen korrekt einzuhalten. In diesem Fall genügt es nicht, wenn jedes Bataillon seine Ordnung separat befolgt, sondern das Tempo muss in allen Bataillonen gleich sein, damit die Standartenfeldwebel, die vor den Bataillonen marschieren, ihre Ausrichtung untereinander wahren und sich parallel zueinander und lotrecht zur allgemeinen Formation bewegen.
    Die Vorherrschaft dieser Paradekultur hatte mit der Rückständigkeit der Bewaffnung zu tun. Teils fasste man die Soldaten, wie in anderen Heeren jener Zeit, in straffen Kolonnen zusammen, um bei der Bewegung großer Formationen die Disziplin aufrechtzuerhalten und Chaos zu verhindern. Doch weitere Faktoren waren die Ineffizienz der russischen Muskete und die sich daraus ergebende Abhängigkeit vom Bajonett (gerechtfertigt durch patriotische Mythen über die »Tapferkeit des russischen Soldaten«, der am besten mit dem Bajonett umgehen könne). Das Gewehrfeuer wurde in der Infanterie derart vernachlässigt, dass »sehr wenige Männer ihre Musketen überhaupt benutzen konnten«, wie ein Offizier aussagte. »Bei uns stützte sich der Erfolg in der Schlacht ganz und gar auf die Kunst des Marschierens und die richtige Streckung der Zehen.« 25
    Diese veralteten Kampfmethoden hatten Russland den Sieg in allen großen Kriegen des frühen 19. Jahrhunderts beschert: gegen die Perser und die Türken und natürlich im bedeutendsten Krieg des Landes gegen Napoleon (ein Triumph, der die Russen überzeugte, dass ihre Armee unbesiegbar sei). Insofern gab es wenig Veranlassung, sich auf die Bedürfnisse der Kriegführung im neuen Zeitalter der Dampfkraft und des Telegrafen einzustellen. Außerdem waren die wirtschaftliche Rückständigkeit und die finanzielle Schwäche Russlands, verglichen mit den neuen Industriemächten des Westens, ein erhebliches Hemmnis bei der Modernisierung seiner gewaltigen und teuren Friedensarmee. Erst während des Krimkriegs – als sich die Muskete als wirkungslos gegen das Minié-Gewehr der Briten und Franzosen erwies – bestellten die Russen Gewehre für ihre eigenen Truppen.
    Von den 80 000 russischen Soldaten, die den

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